oder Ein Gespenst namens Martin Schulz

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das global vagabundierende Kapital fürchtete seit Jahren keine Regierungen, keine Parlamente und erst recht keine Sozialdemokraten.


Doch die überwunden geglaubte Angst scheint zurückzukehren. Denn wenn der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IDW), einer Arbeitgeberinstitution, auf Martin Schulz‘ bislang eher zaghafte Kritik an der Agendapolitik geradezu allergisch reagieren, scheint der neue starke Mann der SPD eine Achillesverse des deutschen und internationalen Neoliberalismus getroffen zu haben. Und gleichzeitig bringt Schulz, möglicherweise ohne es beabsichtigt zu haben, all jene, die seit Jahren unverdrossen die Arbeitsmarktstatistiken manipulieren und de facto verfälschen, seine eigenen Parteifreunde inklusive, in erhebliche Beweisnot.

Arbeitgeber kümmern sich in der Regel nicht um volkswirtschaftliche Notwendigkeiten; es sei denn, die Nachfrage der Konsumenten bräche durch strukturelle Verwerfungen zusammen. In solchen Fällen wird dann nach staatlichen Investitionen gerufen, die aber tunlichst nicht aus Kapitalerträgen finanziert werden dürfen. Typischerweise handelt das Kapital ausschließlich nach betriebswirtschaftlichen Erwägungen. Im Vordergrund steht die Rentabilität, die zwar nicht allein, aber doch wesentlich von der Höhe der Arbeitskosten bestimmt wird.

Ein Arbeitnehmer, der trotz Arbeitslosigkeit noch einen gewissen Freiraum besitzt (beispielsweise einen längeren Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung), verdirbt die Kalkulation. Denn bei geringerem Existenzdruck wird nicht jede x-beliebige Stelle zu meist geringerer Bezahlung angenommen. Ähnlich verhält es sich bei Leiharbeitern, die zu niedrigen Löhnen schuften müssen und die nur einem eingeschränkten sozialen Schutz unterliegen und ebenso bei Menschen, die sich unter dem Druck der Verhältnisse auf befristete Arbeitsverhältnisse einlassen müssen.

Dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieser modernen Versklavung immens sind, kümmert weder BDA noch IDW noch deren verlängerter Arm in Parlament und Regierung. Denn die Opfer der Entwicklung müssen ihr eigenes, aber überwiegend unverschuldetes Desaster selbst bezahlen: Durch ihre Einkommensteuer, durch die Erhöhung von Sozialbeiträgen und durch geringere Ansprüche an Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung.

Die Riester-Rürup-Gruppe, ein Teil der Schröder-Maschmeyer-Connection, hat mit ihren Giftpapieren aus der Not der Ausgebeuteten sogar noch Kapital zu schlagen versucht. Unter dem Schlagwort „Stärkung der Eigenverantwortung“ wurden den um Teile ihrer künftigen staatlichen Rente Betrogenen Papiere aufgeschwatzt, die sich die Leute entweder nicht leisten konnten und können oder die erst nach 100 Beitragsjahren zu einem spürbaren Zusatzeinkommen führen (auch unter Berücksichtigung steuerlicher Aspekte). Wirtschaftlich interessant sind diese Versicherungen nur für jene, die sie gar nicht benötigen.

Im Jahr 2005 waren über 5 Millionen Menschen arbeitslos. Heute sind es nominell noch die Hälfte - falls man nicht die hinzuzählt, die man in eine unfreiwillige Frühverrentung getrieben hat (Ansprüche an die Rentenversicherung gelten als Ausschlussgrund für den Bezug von Arbeitslosengeld II), die in (Alibi-) Maßnahmen zur beruflichen Qualifikation stecken und Hartz IV beziehen und all jene, die trotz sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung mit Hartz IV-Leistungen ihren kläglichen Lohn aufstocken müssen. Ich habe viele Statistiken durchgearbeitet, vor allem die offiziellen des Statistischen Bundesamtes und komme eher auf 6 Millionen denn auf 5 Millionen Bezieher von Transferleistungen, aber niemals auf „nur“ 2,6 Millionen. Der Staat belügt sich und seine Bürger, wenn er statt zu einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu kapitalistischen Tricksereien greift.

Und man kann auch leicht die Gegenprobe machen. Die SPD hat bei den Bundestagswahlen nach 2002 durchschnittlich 15 Prozentpunkte bei den Wählern verloren. Mutmaßlich waren das jene, die bereits durch das soziale Netz gefallen waren oder die befürchten müssen, dass auch ihnen bald die Stunde des Elends schlägt. Vor diesem Hintergrund kann Martin Schulz gar nicht anders als mit der Agendapolitik Schröders hart ins Gericht zu gehen. Zumindest bei einem Teil der sozialdemokratischen Wählerbasis scheint Schulz damit neue Hoffnungen zu wecken. Und vor allem einen lange nicht mehr gekannten Mut zum Widerspruch.

Eine Gesellschaft benötigt Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Überzeugung macht sich bei der alten SPD, die teilweise schon in der Schmidt-Ära, aber vor allem unter Schröder, ihre historischen Wurzeln gekappt hatte, wieder breit. Hoffen wir, dass es kein Strohfeuer ist.

Foto:  Holzschnitt (c) Frans Masereel