Das Wahldesaster der SPD in NRW war vorhersehbar

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ein Schaufenster sollte nichts versprechen, was der Laden dahinter nicht halten kann.

Wer, von der Dekoration in der Auslage angelockt, den Krämerladen von Hannelore Kraft und Martin Schulz in NRW betrat, stieß auf leere Regale. Das nimmt man im Revier nach 40 Jahren wirtschaftlicher Instabilität den Verantwortlichen übel. Denn in dieser Region muss allmählich erkennbar werden, dass der Strukturwandel zum Nutzen aller endlich vor dem Abschluss steht. Und dass die neuen Produkte und Dienstleistungen mit sozialen Errungenschaften einherzugehen haben.

Speziell von der Sozialdemokratie, die zum Ruhrgebiet einst so dazu gehörte wie das legendäre Bier, erwartet man eine Bürgerversicherung, die Anhebung des gesetzlichen Rentenniveaus mit einem garantierten Mindestsatz, ein Gesundheitssystem ohne Profitinteressen, das gesetzliche Verbot von Immobilienspekulation und Lobbyismus, die Re-Verstaatlichung von Bahn und Post, klimafreundliche Verkehrsstrukturen, bessere Lehrer und bessere Schulen und nicht zuletzt ein gerechtes Steuersystem.

Die von Martin Schulz herbeigeredeten „hart arbeitenden Menschen“ möchten nicht länger ohne Perspektive schuften, sondern ein Leben führen, in dessen Mittelpunkt nicht mehr die mitunter schlecht bezahlte Lohnarbeit steht. Und diejenigen, denen es besser geht, möchten nicht den Absturz in prekäre Arbeitsverhältnisse, gar in die Langzeitarbeitslosigkeit befürchten müssen.

Zu einem menschenwürdigen Leben gehören auch akzeptable Lebensräume, in denen sich Freizeit und Kultur entfalten können. Wenn ich heute den Nordmarkt meiner Heimatstadt Dortmund besuche, bin ich entsetzt von den elenden Verhältnissen. Entwurzelte Zuwanderer aus Osteuropa und seit sechs Jahrzehnten nicht integrierte ehemalige Gastarbeiter aus der Türkei bestimmen heute ein Viertel, in dem bis in die späten 80er Jahre das normale Leben pulsierte. Diese Wohnviertel sind zu Reservaten der Kriminalität geworden.

In Duisburg-Marxloh sind die Verhältnisse ähnlich. Und ich weiß von Quartieren in Bochum, Herne und Oberhausen, die einst von gut verdienenden Facharbeitern und Angestellten geprägt waren und die heute buchstäblich vor die Hunde gehen. Und überall befinden sich AfD und NPD in Reichweite, und ernten, was Sozialdemokraten gesät haben.

Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum Hannelore Kraft während ihrer Regierungszeit diese für das Rhein-Ruhr-Gebiet immer typischer werdenden Ghettos und Slums ausgeblendet hat. Dort, wo der Alltag vom Überlebenskampf bestimmt wird, kann auch keine Bildung gedeihen. Verwahrloste Schulgebäude, Lehrer, die nicht mehr wissen, mit was und wie sie ihre Schüler begeistern können, sind ebenfalls zwangsläufige Folgen dieser Fehlentwicklung.

Gerechtigkeit herbeizuführen ist ein revolutionärer Prozess, der mit den zu überwindenden Verhältnissen hart ins Gericht gehen müsste. Solidaritätsbekundungen an Schröder, Müntefering, Riester & Co sowie das Schönreden der Agenda sind hingegen kontraproduktiv und stärken den politischen Gegner.

So ist es auch kein Wunder, dass Wahlen immer mehr den Charakter von Glücksspielen annehmen. Wer vorgestern und gestern auf Rot setzte und nichts gewann, sogar alles verlor, setzt heute auf Schwarz, gar auf Braun.

In den ersten Stellungnahmen nach dem Wahldesaster kündigte Parteichef Martin Schulz an, dass die SPD in den kommenden Wochen zunehmend inhaltliche Akzente setzen werde. Da fragt man sich doch: Verfügt die SPD über kein Programm? Hat sie bislang nicht definiert, wessen Interessen sie vertritt? Hat man sich der X-Beliebigkeit verschrieben und sein Heil in Marketingstrategien gesucht? Ist die Partei zu einem Shop mit Modeprodukten verkommen, der neue Kunden mit dummen Sprüchen, bunten Luftballons und Wundertüten anlockt und deswegen täglich Teile seiner Stammkundschaft verliert?

Wer jetzt von Investitionen in Bildung und innovative Technologien und von der Notwendigkeit eines arbeitnehmerorientierten Steuerkonzepts spricht, das aber bislang entweder nicht gewusst oder verschwiegen hat, sollte zugeben, dass er überfordert ist. Schulz‘ Äußerung "Wir werden unser Profil weiter schärfen, das müssen wir auch" klingt bereits wieder nach Rechtfertigung, aber keineswegs nach neuen Erkenntnissen, gar nach Neubeginn.

Foto: NPD-Demo-am-Dortmunder-Nordmarkt.(c) Ruhrnachrichten.jpg