hwk mariNoch einmal die Spannweite der Berlinale (Tagebuch 9)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Gestern im Berlinale Palast fuhr mir die wahnsinnige Stimme Aretha Franklins in Seele und Körper. Während des Films „Amazing Grace“ wollte ich wohl aufspringen und mittanzen. Anschließend sah ich den Gänsehaut machenden Streifen „Marighella“, der - als aktuelles Statement des Produktionsteams zur politischen Situation in Brasilien - den Widerstand in dem Land gegen die Diktatur Ende des 20. Jahrhunderts zeigte.

Zwei von sechs Beiträgen also, die zwar im Wettbewerb außer Konkurrenz gezeigt wurden, jedoch die riesige Bandbreite des Festivals verdeutlichten. Heute Abend gibt es die Gold- und Silber-Bären, aber wie ich schon so oft schrieb: der Wettbewerb ist ja nur die Spitze des Berlinale-Eisbergs. Auch in anderen Sektionen werden zahlreiche Auszeichnungen und weitere Preise vom Publikum, von Firmen und Organisationen vergeben.

Die „Bärenorakel“ in den Berliner Zeitungen, in denen die Gewinner des Goldenen Bärens geweissagt werden, hatten bisher selten Recht. Ich selbst habe keine Favoriten, bis auf einen Film haben mir alle, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, gut bis sehr gut gefallen.

Ich gehe mal davon aus, dass alle Filmschaffenden ihr Handwerk beherrschen und wissen, dass und warum sie in Farbe oder nicht, mit Musik oder nicht, kitschig oder langatmig arbeiten. Deshalb habe ich auch keine schlauen Verbesserungsvorschläge: Auch dann nicht, wenn die Handlung verschachtelt, das Ende offen oder der Film insgesamt wenig „verständlich“ ist. Manche Regisseurinnen und Regisseure muten dem Publikum auch mal Nachdenklichkeit, eigene Interpretationen und individuelle Assoziationen zu.

Ich fand einige Streifen des Wettbewerbs - und auch in den Nebenreihen - faszinierend, obwohl ich sie nicht gleich oder völlig „verstanden“ habe. Doch selbst wenn man alles über einen Film weiß, mit den Filmschaffenden in der Konferenz spricht und den Streifen „richtig“ interpretiert: Es bleibt doch der „unwägbare Rest“, von dem Adorno sprach und der jedem Kunstwerk innewohnt. Könnte man es einfacher erzählen, müsste man es nicht tanzen, malen oder als Film machen. Ich freue mich auf die Preisverleihung und darauf, sie hinterher für Sie zu kommentieren: Also bis Montag!

Foto:
Eindrücke von der Pressekonferenz zum Film „Marighella“. Regisseur Wagner Moura und Hauptdarsteller Seu Jorge
© Hanswerner Kruse