c Mishra Das Zeitalter des Zorns 72dpiÜber Pankaj Mishras Buch „Das Zeitalter des Zorns“

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im ersten Kapitel seines Buches erwähnt Pankaj Mishra ausführlich den italienischen Dichter und Faschisten Gabriele D’Annunzio.

Dieser war ein Nationalist, dem es nicht gelang, die sozialen Vorgänge im frühen 20. Jahrhundert einzuordnen und zu reflektieren, was ihn schließlich zum Bewunderer und Gefolgsmann Benito Mussolinis machte. Für Mishra ist dieser dem Größenwahn erlegene „Führer der Unterdrückten“ ein exemplarischer Beweis für die geistige und politische Situation des damaligen Europa. Und folglich bezieht sich seine „Geschichte der Gegenwart“, wie der Untertitel des Buches lautet, auf eher untypische, gar marginale Ereignisse und Personen.

Seine Feststellung: „Schon seit der Französischen Revolution hatten frustrierte Männer gänzlich neue Formen der Politik entwickelt – vom Nationalismus bis hin zum Terrorismus“ ist an Pauschalierung kaum zu überbieten. Im Schnelldurchlauf lässt er das 19. Jahrhundert passieren. Den französischen General Georges Boulanger und den britischen Politiker Cecil Rhodes hält er dabei für erwähnenswert. Auf Denker wie Hegel, Feuerbach, Stirner, Marx, Engels, Saint-Simon, Smith oder Ricardo, welche den Wandel vom Feudalismus zum Frühkapitalismus am Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert indirekt begleiteten oder ihm wesentliche Impulse gaben, geht er hingegen nicht näher ein. Deswegen fehlt seiner Gegenwartsbeschreibung eine Analyse der Bedingungen, die das hervorgebracht haben, was wir heute entweder als Fehlentwicklungen geißeln oder als Errungenschaften hochhalten.

Zwar trifft es zu, dass sämtliche Prozesse der wirtschaftlichen, speziell der industriellen Modernisierung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts diejenigen, die nicht davon profitierten, anfällig machten für Demagogen. Doch neben den Verführten und ihrem Hass auf konstruierte Feindbilder gab es auch Gegenbewegungen, die sich dem Humanismus, der Gerechtigkeit und der Solidarität verbunden fühlten und diese Tugenden propagierten. Sie sind bis heute nicht verschwunden, im Gegenteil!

Ein typisches Beispiel für Mishras Fehleinschätzungen ist der von ihm als lediglich herbeigeredet bezeichnete Antagonismus zwischen Islam und säkularer westlicher Welt. Islam bedeutet seiner Wortbedeutung nach Hingabe, nämlich die Hingabe des Menschen an einen geglaubten Gott, also jenem, der vom Propheten Mohammed offenbart worden war. Diese Religion entstand in einem bestimmten sozialen Umfeld, nämlich dem Arabien des siebten Jahrhunderts, das von autoritären Herrschaftsstrukturen, sich verschärfenden Stammeskonflikten und einem verbreiteten Polytheismus geprägt war. Der neue Glaube war, ganz im Sinn von Feuerbachs Religionskritik, ein Spiegel dieser Verhältnisse. Er setzte auf die Einheit der kernarabischen Völker, auf eine neue Alltagsethik und auf eine Erlösungshoffnung, die bewusst auf eine jenseitige Welt zielte. Denn die bestehenden Machtverhältnisse sollten selbstverständlich nicht angetastet werden. Daran hat sich im Prinzip bis heute wenig geändert.

Die Vorstellungen des Christentums von irdischer Welt und künftigem himmlischen Paradies waren durchaus ähnlich und sind vermutlich Vorbild gewesen. Schließlich beanspruchte diese Religion seit dem vierten Jahrhundert die Deutungshoheit in allen Fragen des Lebens. Und auch ihre Bindung an die Interessen der Herrschenden war vergleichbar. Im Gegensatz zur arabischen Welt traten aber im Laufe von Jahrhunderten die Widersprüche zwischen Glaubensanspruch und Glaubenswirklichkeit auf der einen Seite und die zwischen Herrschern und Beherrschten auf der anderen deutlicher zu Tage. Das christliche Abendland war politisch zerrissener als die arabische Halbinsel. Im Heiligen Römischen Reich sorgten bereits die Antipoden Papst und Kaiser für einen permanenten Konflikt, der von den unterschiedlichen Nationen sowohl verschärft als auch auf weitere Ebenen ausgedehnt wurde. Zusätzlich setzten die ökonomischen Veränderungen neue Akzente. Neben der Agrarwirtschaft gewann das Handwerk an immer größerer Bedeutung. Zudem waren beide auf den Handel angewiesen, der einen eigenen Stand, den der Kaufleute, hervorbrachte.

Als Martin Luther seine im Kern rein theologischen Forderungen an Kirche und Welt formulierte, gärte längst der Kampf zwischen leibeigenen Bauern und Grundherren und stellte auf seine Weise die überkommenen Vorstellungen in Frage.

Die Doppelkrise von Kirche und weltlicher Macht mündete schließlich in der Aufklärung und in der zunehmenden Bedeutung einer philosophischen Richtung, die neben der traditionellen Suche nach dem Sinn des Menschseins völlig neue Fragen stellte. Nämlich nach der Ordnung der Gesellschaft, nach formaler Gleichheit aller Bürger, nach Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen. Diese Entwicklung beschleunigte das Bewusstsein jener Schichten, denen bislang nur ein Leben als rechtlose Knechte und Mägde beschert war. Die Französische Revolution von 1789 war schließlich sowohl Schlussakkord der alten untergehenden Welt als auch der Beginn eines neuen Zeitalters.

Die neuen sozialen Bewegungen, die in ihrer Folge entstanden, fußten auf drei Quellen: Der klassischen deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und dem französischen Sozialismus. Sie stellten die „Mächte des alten Europas“ in Frage. Und diese verbündeten sich „zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten“, wie es im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 heißt.

Die sozialistischen Ideen beschränkten sich zunächst auf das westliche Europa, griffen am Ende des 19. Jahrhunderts auf Russland über und lösten dort in mehreren Schritten eine von ihrem Umfang bislang nie da gewesene Revolution aus. Und sie strahlen bis zur US-amerikanischen Ostküste. Bis zum Ersten Weltkrieg zählte die Kommunistische Partei der USA zu den mitgliederstärksten in der Welt.

Wenig Resonanz hingegen erzielten sie in den feudalen Staaten Asiens und Afrikas, die zudem durch den Kolonialismus Großbritanniens, Frankreichs und des deutschen Kaiserreichs in ihren wirtschaftlichen Entwicklungen eingeschränkt wurden.

Die islamisch geprägte Welt wies ebenfalls kaum Affinitäten zu sozialistischen oder sozialdemokratischen Vorstellungen auf. Das änderte sich auch nicht nach dem Untergang des osmanischen Großreichs. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wagten zwei Länder einen Aufbruch: Ägypten und der Iran. Doch Ägyptens Staatschef Nasser stand seiner Lesart von Sozialismus mit seinem überbordenden Nationalismus und dem Festhalten am orthodoxen Islam selbst im Weg.
Der iranische Premierminister Mossadegh hingegen verwies den Islam ins Private, verstaatlichte die Erdölindustrie, scheiterte jedoch an der Angst der USA, einen wichtigen Erdöllieferanten zu verlieren. Zudem fürchteten die Vereinigten Staaten eine Allianz Persiens mit der Sowjetunion. Mohammad Reza Schah Pahlavi hielt zwar an den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen fest, band jedoch durch die weiterhin strikte Trennung von Staat und Religion die aufstrebenden Schichten der Akademiker und Industriearbeiter an sich. Die an den religiösen Traditionen festhaltende Landbevölkerung fühlte sich als Verlierer der Modernisierung. Das zunehmend autoritärer agierende Schah-Regime ging gegen Konservative und Progressive gleichermaßen brutal vor. Die Opposition verband sich daraufhin mit dem fundamentalistischen Islam; letzterer trug 1980 unter Chomeinis Führung den Sieg davon.

Hier trifft Mishras These zu, dass Entwurzelte, die von der Moderne nicht profitieren, sich jedem Demagogen an den Hals werfen und zur Gewaltanwendung gegen jedermann bereit sind. Aber gleichzeitig analysiert er nicht die Rolle des religiösen Fundamentalismus, der quer durch die Historie der letzten 2000 Jahre ein genuiner Partner jedweder Diktatur war und geblieben ist. Gemeinsam instrumentalisieren solche Koalitionen soziale Bewegungen und neutralisieren sie dadurch. Hier erweist sich der Islam als eindeutig gefährlicher als der dogmatische Katholizismus, der allenfalls noch in Polen und Ungarn zu reüssieren vermag.

Vor allem verwundert es den informierten Leser, wenn Mishra meint, dass im Nahen Osten durch die Globalisierung Institutionen des Zusammenhalts zerstört wurden. Die Oligarchen des Westens verbünden sich nur allzu gern mit denen aus anderen Nationen. Ein besonders abschreckendes Beispiel dafür ist das Heimatland des Verfassers, nämlich Indien, wo der britische Imperialismus in neuen Kleidern wiederaufersteht. Hier wäre eine Revolution vonnöten, die alles in Frage stelle, nicht zuletzt auch das Kastenwesen. Doch ausgerechnet hier scheint Mishra schützenswerte Institutionen des Zusammenhalts ausgemacht zu haben. Ähnlich wie in den patriarchalischen Familienstrukturen der islamischen Welt.

Auf den über 400 Seiten des Buchs habe ich keinen Hinweis auf die „Kritische Theorie“ und ihre Rezeption in Asien und Afrika gefunden. Die Globalisierung scheint sehr einseitig zu verlaufen. Es geht ausschließlich um Profit, Konsum von mehrheitlich verzichtbaren Gütern, um Ressourcenvernichtung und um politischen Einfluss. Der Rest dessen, was die Welt, nicht zuletzt Europa, hervorgebracht hat, wird dem Schweigen überantwortet.

Die sozial Benachteiligten und die um ihren bescheidenen sozialen Status Besorgten stehen zweifellos weltweit im Bann des Zorns; dies gilt erst recht in den so genannten Entwicklungs- und Schwellenländern. Statt sich zu empören und zu widerstehen, lassen sich viele, zu viele, von blindem Hass leiten und verstoßen dadurch gegen ihre eigenen Lebensinteressen. Da sie zur Bildung humaner sozialer Theorien entweder unfähig sind oder daran massiv gehindert werden, binden sie sich an doktrinäre Ideologien, sei es faschistische oder religiöse oder sogar an beide. Pankaj Mishra klärt uns über diese Fehlentwicklungen leider nicht auf.

Foto: Buchumschlag © S. Fischer Verlag Frankfurt

Info:

Pankaj Mishra
Das Zeitalter des Zorns
Eine Geschichte der Gegenwart
Hardcover
Preis 24,00 €
ISBN: 978-3-10-397265-8
Fischer Verlag