Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gleich vorneweg, das Buch liest sich wie von alleine. Man merkt die journalistische Routine (Lob!) des einen, der - bis auf Sport - zuständig ist für die meisten Themen der Lokalredaktion der Frankfurter Rundschau und die Grünen mal sehr mochte, man merkt auch das Einverwoben sein des anderen, der als Grünen-Politiker in der Pressestelle der Stadt einst Reden für Petra Roth schrieb, die 13 Jahre lang amtierende CDU-OB der Stadt war.
Eine gewissen Süffigkeit stellt sich also ein, vor allem, wenn man das, was man hier für die Jahre ab 1968 mit leichten Rückblenden zu den vorangegangen Jahren liest, selbst miterlebt hat. Und – ist mir aufgefallen – da wird man leicht beckmesserisch. So steht auf Seite 16 „Im riesigen ehemaligen IG-Farben-Gebäude im Westend saß 1968 das Hauptquartier der US-Armee in Deutschland.“, was ja richtig ist, aber verschweigt, daß das IG-Farbenhaus sogar das europäische Hauptquartier war, das Eisenhower schon vor dem Kriegseintritt der USA für diese Funktion bestimmt hatte. Deshalb ist auch die gesamte Altstadt bombardiert worden, aber das früher Affenstein genannte Gelände nicht, nur oben im Norden, wo gerade die Fliegerbombe gefunden und für große Aufregung sorgte. Und wie man das IG-Farben-Haus ohne den Bezug zu den IG-Farben erwähnen kann, die für die Nazis für die KZs Zyklon B produzierten, verstehe ich auch nicht.
Anderes, wie, daß es hier in Frankfurt nicht erst mit 1968 begann und für unsereinen die Notstandsgesetze der erste Anlaß waren, die Politik der Bundesrepublik von der Straße aus zu bekämpfen, was man zuerst vermißt, das bringen die Autoren an späterer Stelle, eben als Vorhut, so daß das Vertrauen beim Lesen wächst, daß hier ordentlich berichtet wird von Zeiten, die auch in hundert Jahren noch vom Bruch in einer Gesellschaft erzählen werden, ein jugendliches Aufbegehren, das sich politisch verstand, aber im Ergebnis doch eher nur das Leben einer ganz gewissen Schicht freier machte, in einer noch aus kleinbürgerlichen Zwängen strukturierten Gesellschaft. Beispiel wäre hier, daß - heute selbstverständlich - junge Leute ohne Trauschein zusammenziehen – und vor allem eine Wohnung mieten können!, wozu man damals verheiratet sein mußte.
Was interessant und den Autoren vielleicht gar nicht bewußt war, das ist, daß das Buch aus rein studentischer Perspektive geschrieben ist und gar nicht miteinschließt, daß diejenigen, die die Uni gerade verlassen hatten und wie ich Lehrerin an einer Volksschule geworden war, eben als Berufstätige an den Studentenprotesten teilnahmen. Nie werde ich vergessen, wie nach der frühmorgendlichen Belagerung der Societätsdruckerei, wo die BILD gedruckt wurde, die Wasserwerfer militant ihren Dienst taten und ich zweimal pitschnaß direkt in die Schule mußte, denn der Unterricht begann früh, während die anderen Klatschnassen, überwiegend Studenten, heim ins Trockene und ins vielleicht noch warme Bett krochen.
Daran merkt man, daß beide Autoren – heute auch schon leicht angegraut – damals vor 50 Jahren noch Schüler waren und das meiste vom Hörensagen kennen. Das allerdings ist dann wiederum der Vorteil des Buches, das nicht eine Sicht schildert, sondern viele der Damaligen zu Wort kommen läßt. Wohl am meisten wurde mit Daniel Cohn-Bendit gesprochen, der als „Star“ der damaligen Szene beschrieben wird, was er auch war. Im übrigen ist er vielleicht der wandlungsfähigste aller 68er geblieben, der einen gesundes Mittelweg zwischen Anspruch und Wirklichkeit leben wollte und konnte, also nicht, wie so viele andere in der Wirklichkeit später gut dotierte Posten einnahmen und den Anspruch vergaßen.
Zu den Interviewten gehört auch Cornelia-Katrin von Plottnitz, ebenfalls eine Grüne und von angenehmer Art. Auf Seite 89 steht: „Sie wollte Lehrerin werden und dann an der Schule für eine Veränderung des Unterrichts eintreten, unter dem sie noch während ihrer eigenen Schulzeit gelitten hatte. Eine neue Generation demokratisch orientierter Lehrkräfte sollte die ablösen, die in den späten 60er-Jahren häufig genug noch aus der Nazizeit stammten. Schon in den 20er Jahren hatte es eine reformpädagogische Bewegung gegeben...“, und das stimmt auch alles und baut doch auf einer Unstimmigkeit auf. Denn im angegebenen Jahr 1969, in dem sie ihr Studium abschließen wollte, tat sie das für das Lehramt an Gymnasien. Abitur hatten 1963 mal gerade 3,5 Prozent der Bevölkerung, was auf 5 Prozent anwuchs. Gymnasien waren also elitär. Aber wer damals die Schule verändern wollte, ging als Lehrerin natürlich in die Volksschule, wo 95 Prozent der Bevölkerung es sehr nötig hatten, eine bessere Bildung unter reformpädagogischen Zielen zu erhalten. PICHT (der Tübinger Professor, der die Bildungsdiskussion in Gang setzte) und die deutsche BILDUNGSKATASTROPHE waren die Stichworte und das katholische(1) Arbeitermädchen (2) vom Land (3) in Bayern (4) diejenige, die vierfach bestraft wurde.
Das wäre nicht wichtig? Oh doch, denn es zeigt, daß in vielem des 68er Begehrens auch eine Reproduktion der eigenen Schicht steckte und nicht eine allgemeine Gesellschaftsreform das Vordringliche war, sondern sehr privatistisch vordringlich schien, sich von den eigenen Eltern, auch ihrer potentiellen Vergangenheit, zumindest die der Großeltern im Faschismus, abzuheben. Denn überaus viele der 68er hatten NS-belastete Eltern. Zu Hause aber wurde geschwiegen. Auch von den Kindern. Aber zurück zum Buch, das dafür nichts kann, aber sich doch sehr im Berichten, was die damaligen Achtundsechziger wollten und taten erschöpft. Nicht kritisch das Ganze begleitet, was aber auch nicht in der Absicht der Verfasser stand, also nicht vorzuwerfen ist.
Anmerkung: Es wird in der Folge noch auffallen, daß dem Bildungsaspekt im vorliegenden Buch nicht genug Aufmerksamkeit zukommt, denn das, was PICHT und DIE DEUTSCHE BILDUNGSKATASTROPHE auslöste, war in der BRD nicht mehr aufzuhalten. Die Idee der Gesamtschule und auch der Hessischen Rahmenrichtlinien sind direkter Ausfluß. Das Interessante an der damaligen deutschlandweiten Diskussion war die doppelte Begründung der Bildungsbenachteiligung. Für Georg Picht, der an der Universität Tübingen Pädagoge und Philosoph war, und andere, war nämlich für eine dringende Reform des dreigliedrigen Schulsystems aus dem 19. Jahrhundert, das nur soziale Klassen perpetuiert, also undurchlässig ist, die Begründung, daß Deutschland mit einem so rückständigen Schulsystem auf dem Weltmarkt ökonomisch nicht bestehen könne. Es wurden die Begabungen aus der „Unterschicht“ dezidiert angesprochen, die es durch ein angemessen demokratisches Schulsystem zu fördern gelte, damit sie für Deutschland gute Arbeit leisten. Die Gewerkschaften, auch die SPD und diejenigen, die eine durchlässige Gesellschaft wollten, in denen nicht allein durch Geburt Chancen verteilt werden, verwendeten dagegen für die Notwendigkeit einer anderen Schule die Begriffe erst Chancengleichheit, später Bildungsgerechtigkeit.
FORTSETZUNG FOLGT
Foto: © bpb.de
Info:
Claus-Jürgen Göpfert, Bernd Messinger, DAS JAHR DER REVOLTE Frankfurt 1968, Schöffling & Co 2017
Info:
Claus-Jürgen Göpfert, Bernd Messinger, DAS JAHR DER REVOLTE Frankfurt 1968, Schöffling & Co 2017