Die Jugenderinnerungen der Gospelsängerin Agnes Yaa Tweneboah
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Durch Rolf Hochhuth ist überliefert, daß Ernst Jünger kurz vor seinem 101. Geburtstag zum dritten Mal mit der Lektüre von Dostojewskis „Brüdern Karamasow“ befaßt war – was aber las er unmittelbar danach?
Dem Nachwort des Buches „»Ich mag sie sehr... meine Großmutter«. Mein Leben in Ghana“, den ursprünglich auf Tonband gesprochenen Erinnerungen der Gospelsängerin Agnes Yaa Tweneboah an ihre Kindheit und Jugend in Ghana, ist zu entnehmen, daß Jünger sich voller Begeisterung der damals nur in Typoskriptform vorliegenden Urfassung ebendieses Buches zuwandte, die ihm sein langjähriger Brieffreund Rainer Hackel, der damalige Lebensgefährte und spätere Ehemann der Autorin sowie Lektor des sowohl mit Jünger, als auch mit Hackel befreundeten Autors Ernst Herhaus, zum 101. Geburtstag geschenkt hatte.
Gegen Ende des Buches äußert die Autorin: „Ich weiß nun, daß das Leben eines Menschen überwiegend von dem, was er selbst macht, bestimmt wird. Aber auch die Erziehung im Elternhaus ist sehr wichtig für die Entwicklung eines Menschen. Vielleicht wäre ich eine ganz andere Person geworden, wenn ich in einem guten Elternhaus aufgewachsen wäre. Mit guten elterlichen Ratschlägen fürs Leben hätte ich es vielleicht zu etwas gebracht. Naja, jetzt ist es zu spät. Ich bin schon ein unerzogenes Kind geworden. Es läßt sich nichts mehr ändern.“ (S. 72/73).
Das ist keine Resignation, und auch keine Form von Koketterie mit dem Image des „bösen Mädchens“: Mit einer kaum merklichen, unaufdringlichen Ironie, die sich ihrer natürlichen Erzählfreude problemlos anschmiegt, läßt uns Agnes Yaa Tweneboah an ihrer Kindheit und Jugend in Ghana teilnehmen.
Wiewohl in der Gemeinschaft einer Großfamilie geborgen, leidet die jüngste von drei Töchtern dennoch darunter, ohne Eltern heranwachsen zu müssen. Zur prägenden Figur wird für sie ihre Großmutter mütterlicherseits, deren bedingungslose Liebe ihren Lebensmut stärkt. Nicht zuletzt dank einer besonderen Form von – der abgegriffene Begriff sei hier gestattet: „aufgeklärter Religiosität“ wird es der jungen Frau möglich, mit Witz und Zuversicht ihren Weg zwischen traditioneller dörflicher Kultur und der Welt der Großstadt zu finden und allen Widerständen zum Trotz ein selbstbestimmtes Leben zu führen: „Ich bin eigentlich jemand, der Gottes Segen hat.“ (S. 7)
An einem Einzelschicksal offenbart sich hier beispielhaft die Emanzipation und Entwicklung hin von tradierter Stammeskultur und kolonialistischen Residuen zu einem „modernen“ Afrika – einem „modernen“ Afrika freilich, das seinen eigenen Weg zwischen Überlieferung und Fortschritt zu finden sucht und nicht bloß eine Kopie westlich-kapitalistischer Modelle anstrebt: Eine Utopie, die gewiß noch der Erfüllung harrt, aber für die es sich mit friedlichen Mitteln zu streiten lohnt!
Das Nachwort von Rainer Hackel beleuchtet verschiedene Aspekte der oralen Erzähltradition Afrikas, deren Bedeutung für ein spezifisch afrikanisches Selbstverständnis von Autoren wie Léopold Sédar Senghor oder Francis Bebey hervorgehoben wurde.
Senghor sprach vom „Glück Schwarzafrikas, daß es die Schrift verachtete, obwohl es sie kannte, denn in der Tat kann man eine Anzahl Alphabete aufzählen, die von Negern erfunden wurden. Aber die Schrift macht die Wirklichkeit arm. Sie setzt sie um in starre Kategorien, sie fixiert sie, während es das Eigentümliche des Wirklichen ist, daß es lebendig ist, daß es fließt und keinen Umriß hat.“ („Négritude und Humanismus“)
Und Bebey meinte gar: „Das Wort ist auf das Leben gerichtet, das Leben, das weitergeht und das der Mensch jederzeit zu respektieren hat, weil es das einzige auf Erden ist, das nicht vergeht. Die Menschen, die schreiben können, verlieren diese tiefe Achtung vor dem Leben. Sie wissen, daß ihr Denken die Zeit überdauert, sie wissen, daß das, was sie heute sagen oder denken, auch morgen seine Form behält, wie auch die Menschen beschaffen sein mögen, die nach ihnen leben – denn die Schrift bleibt, die dem Gedanken eine unabänderliche Gestalt gibt.
So wird das Wort, eine natürliche Lebensäußerung, jetzt durch eine Erfindung ersetzt, die Gemeingut der Menschen geworden ist: die Schrift. Daraus ergibt sich, daß das Leben selbst ein wenig an Gewicht verliert, und so werden auch die Weltkriege leicht verständlich, die Millionen von Menschenleben vernichten, oder sagen wir bescheidener, die Raubüberfälle. Aber auch da ist die Achtung vor dem Leben nicht viel größer.
Als der Mensch die Schrift erfand, glaubte er, sich gegen die Unbill der Zeit zu sichern; er verschloß seine Gedanken in einem Buch, dem er ein immer mehr wachsendes und anscheinend unzerstörbares Vertrauen entgegenbrachte. Indessen, das Buch verdient in keiner Hinsicht dieses weitreichende Vertrauen, denn im Grunde ist es der unzuverlässigste Freund, den man sich denken kann. Sagt ihm, daß ihr soeben eine Entdeckung gemacht habt, und es hat nichts Eiligeres zu tun, als sie überall auszuplaudern, als ob die Sache alle Welt etwas anginge. Diese Gepflogenheit, vor niemand ein Geheimnis zu haben, ist das sicherste Mittel, zu guter Letzt niemand klüger zu machen, da jeder weiß, daß das Geschriebene nicht für ihn persönlich bestimmt ist.
Bei uns hatte sich die Sitte der Vorfahren erhalten, mit der Gewißheit, daß sie von unserer Mitteilung einen guten Gebrauch machen würden. Deshalb behielt das Wort – und behält es noch immer – eine Bedeutung, die ihm die Bücher und Zeitungen nicht so bald rauben werden. Das Wort gewinnt noch mehr Macht in der Stunde des Todes, in der die Worte das Gewicht göttlicher Befehle erhalten.“ („Eine Liebe in Duala“)
Hackel berichtet ferner von seiner Freundschaft mit Ernst Jünger und der Bedeutung Afrikas für dessen literarisches Gesamtwerk, beginnend mit dem frühen Roman „Afrikanische Spiele“ (1936), der vielleicht noch am ehesten Züge einer romantischen Projektion aufweist, bis hin zu späteren essayistischen Äußerungen und Tagebuchaufzeichnungen, die von der Öffnung eines „weißen Europäers“ für die Kultur des „schwarzen Afrika“ ein beeindruckendes Zeugnis ablegen, für das sich kaum Parallelen finden lassen.
Am 5. März 1979 notierte Jünger beispielsweise in Cape Mount (Liberia):
„Die Neger. Hier erholt man sich von den Fellachen: in der geschichtslosen von der geschichtsleeren Welt. Das Adjektiv ‚unterentwickelt‘ für Völker, von denen er lernen könnte, zählt zu den Unverschämtheiten des weißen Mannes und umschreibt im Grunde Versklavung auf raffiniertere Art.
Früher bekamen sie Glasperlen und Spiegel, heute Coca-Cola und Autos; zunächst muß ihnen das angestammte Zeitmaß geraubt werden. Die Zeit, die man ‚spart‘, indem man den Pflug durch den Traktor, die eigene Bewegung durch den Motor ersetzt, kommt nicht der Muße zugut. Vielmehr breiten sich ein dumpfes Gefühl des Beraubt-Seins, der Seins-Beraubung und tiefe Unzufriedenheit aus. Das läßt sich an den Gesichtern ablesen.“ („Siebzig verweht II“)
Am 12. 4. 1996 hielt Jünger seine Lektüreeindrücke auf einer Postkarte an seinen jungen Freund fest:
„Lieber Herr Hackel,
in meinem Alter wird man vergeßlich – ich weiß nicht, ob ich mich für die Biographie Ihrer Lebensgefährtin schon bedankt habe. Jedenfalls gefiel sie mir gut – und Sie haben Glück mit dieser Begegnung gehabt.
Gute Wünsche
Ihr Ernst Jünger“
Dem folgte noch ein als Frage gedachter Nachsatz: „Vielleicht kommt noch eine Fortsetzung“
Obwohl Hackel im Nachwort einige Schlaglichter auf den weiteren Lebensweg der Autorin wirft und in seinen anderen Büchern über Ghana viel über ihrer beider heutige Lebenssituation zu berichten weiß, steht die Erfüllung der Hoffnung des Autors der „Marmorklippen“ auf eine Fortsetzung noch aus – noch!
Foto: ©
Info:
Agnes Yaa Tweneboah
»Ich mag sie sehr... meine Großmutter«. Mein Leben in Ghana
Aus dem Twi übersetzt von Albert Quayson
Herausgegeben von Rainer Hackel
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2017
84 Seiten, EUR 8.00 (DE), EUR 8.30 (AT)
ISBN-13: 978-3-95948-228-8
ISBN: 3-95948-228-0
EAN: 9783959482288
Musik von Agnes Yaa Tweneboah auf youtube:
Aka kakrabi:
https://www.youtube.com/watch?v=gjORkceJf2Y
Onyame Nhyira:
https://www.youtube.com/watch?v=u-IX-l_GCxI
Ewurade Kasa:
https://www.youtube.com/watch?v=kfFguwLiZxA
Weitere Bücher von Rainer Hackel über Ghana:
Rainer Hackel: Stromausfall im Paradies.
Ein Reisebericht aus Ghana-Buch
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2015
68 Seiten, EUR 8.00 (DE), EUR 8.30 (AT), sfr 11.90 (freier Preis)
ISBN-13: 978-3-95948-038-3
EAN: 9783959480383
Rainer Hackel: Ärger im Paradies.
Geschichten aus Ghana und Deutschland
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2015
88 Seiten, EUR 8.30 (AT), EUR 8.00 (DE)
ISBN-13: 978-3-95948-091-8
EAN: 9783959480918
Rainer Hackel: Rückkehr ins Paradies
Geschichten aus Ghana
Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2016
61 Seiten, EUR 8.00 (DE), EUR 8.30 (AT)
ISBN-13: 978-3-95948-187-8
ISBN: 3-95948-187-X
EAN: 9783959481878