c Boll Wanderer dtvHeute vor hundert Jahren wurde Heinrich Böll geboren. Erinnerungen an ihn, Teil 2/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In der Aufeinanderfolge der Böllschen Erzählungen schließt sich an die Darstellung von Krieg und Kriegsschicksalen die auch von ihm so benannte „Trümmerliteratur“ an. Es ist die Zeit unmittelbar nach der Währungsreform, in der sich bereits die Restauration bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse abzeichnet. In der satirischen Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ findet diese künstlerische Hinwendung zu einem neuen Zeitabschnitt, der teilweise als Kopie eines überwunden geglaubten erscheint, ihren facettenreichen Ausdruck.

In seinem ersten Erfolgsroman „Und sagte kein einzi­ges Wort“, 1952 erschienen, beschreibt Böll eine Ehe, die an den materiellen wie nichtmateriellen Lebenseinschnitten, welche die Zeitläufe den Menschen zufügen, zu scheitern droht. Gleichzeitig kritisiert er die Katholische Kirche, ihr Amts- und Seelsorgeverständnis und ihre ständige Kumpanei mit der politischen Führung.

Bölls kritische Beschreibung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft findet ein Jahr später, 1953, ihre Fortsetzung in dem Roman „Haus ohne Hüter“. Zwei Heranwachsende, die ihre Väter durch den Krieg verloren haben, aber aus unterschiedlichen sozialen Schichten stammen, verkörpern die Stimmungen in einer Gesellschaft, welche die Vergangenheit verdrängt und den wirtschaftlichen Erfolg zur Lebensmaxime erhebt.

Nur auf den ersten Blick hin scheint Böll zwischen 1954 und 1957 Inhalte und Perspektiven zu wechseln. Gemeint ist das „Irische Tagebuch“, das aus 18 Einzelerzählungen besteht. Verunsichert und frustriert über die Entwicklung in der Bundesrepublik schildert er darin Begegnungen mit einem Land, das einerseits noch katholischer ist als das von ihm sowohl geliebte als auch gehasste Köln und dessen Gesellschaft durchaus markante Ähnlichkeiten mit dem berüchtigten Kölner Klüngel aufweist. Allerdings das alles um einige Spuren menschlicher und mit weniger radikaler Verbissenheit.

Im Jahr 1957 hat die deutsche Wirklichkeit, und gemeint ist die gesellschaftspolitische, Böll wieder voll im Griff. Denn 1957 ist das Jahr der Wiederbewaffnung. Aus seiner Sicht feiert der alte Militarismus seine Wiederauferstehung. In der kurzen Erzählung „Hauptstädtisches Journal“, einem fiktiven Tagebuch eines ebenfalls fiktiven Bundeswehr-Obersten, wird die Verbrüderung der neuen Verhältnisse mit dem alten Kasernenhofgeist vollendet persifliert. So hält der Oberst mit dem beziehungsreichen Namen Machorka-Muff in seinen Notizen fest: „Eine Demokratie, in der wir die Mehrheit des Parlaments auf unserer Seite haben, ist weitaus besser als eine Diktatur.“ Und sein Offizierskamerad Murcks-Maloche, erkennbar CDU-Mitglied, wundert sich über die eigene Partei: „Diese Christen - wer hätte das von ihnen erwarten können.“

Damit spielt Böll auf die Zusammenarbeit von Kirche und Staatsgewalt an, die als Verfilzung von Klerus und Staat speziell im rheinischen Milieu zu einem der wichtigsten Themen in den folgenden Jahren werden soll.

Ähnlich deutlich wird er in dem berühmt gewordenen „Brief an einen jungen Katholiken“, in dem er sich speziell mit der katholischen Militärseelsorge auseinandersetzt. Heftig kritisiert er darin die Haltung seiner Kirche angesichts einer Welt, in der sich Ost und West mit atomaren Massenvernichtungswaffen gegenüberstehen, während sich die selbst ernannten Nachfolger Jesu, vom Dorfpriester bis hin zum Papst, um die sittlichen Gefahren junger Soldaten Sorgen machten, Gefahren, mit denen stets nur sexuelle gemeint seien. Doch zu sexuellen Übergriffen sei man selbst in der Wehrmacht nicht ge­zwungen worden. Auch in den eher wenigen Fällen, als ganze Kompa­nien ins Bordell marschiert wären, hätte sich jeder selbst frei entscheiden können, ob er mitgehen wollte.

Bei Böll nimmt die Katholische Kirche die Züge einer verklemmten und weltfremden Institution an, während sie auf der anderen Seite mit den Mächtigen der Welt gemeinsame Sache macht und das Reich Gottes auf Erden der atomaren Vernichtung preisgibt.

Doch der Schriftsteller scheut sich nicht, auch andere Ärgernisse beim Namen zu nennen. In Texten zu einem Fotoband über das Ruhrgebiet kritisiert er die Gewerkschaften, die mit Rücksicht auf den Wirtschaftswunderenthusiasmus die Zerstörung der Lebenswelt durch Bergbau und Schwerindustrie billigend in Kauf nähmen. Die Protestwelle, die daraufhin folgt, ist heftig. Die Regionalzeitung „Ruhr-Nachrichten“ veröffentlicht achtmal hintereinander jeweils eine ganze Seite mit offensichtlich lancierten Leserbriefen, sämtliche voll aggressivem Protest. Und der Oberbürgermeister von Essen spricht öffentlich von der Kampagne eines Moralisten, der seine Moral verloren hätte.

Auch wenn Böll kritisiert, dass das Geld der einzige ge­sellschaftsbildende Faktor in der deutschen Nachkriegsgesellschaft sei, stellt er sich damit nicht auf die Seite der Sozialisten, gar auf die der Kommunisten (letztere waren ohnehin bereits auf Antrag der Adenauer-Regierung verboten). Auch die nicht-parteiliche marxistische Kritik an den Verhältnissen ist nicht seine Sache. Zu sehr ist er einer Christlichkeit verpflichtet, in der die Sakramente der Kirche die radikale Infragestellung religiöser Normen durch Jesus überstrahlen.

In seinem Roman „Billard um halb zehn“, der zur Buchmesse 1959 erscheint, thematisiert er zwar die Kommunistenhetze der Nazis, den Anti-Kommunismus der Adenauerzeit und den Gegensatz von Kapital und Proletariat. Dennoch verweist er auf die Möglichkeit, gar die Notwendigkeit einer Erlösung durch Versöhnung und nicht durch Klas­senkampf. Böll will fast schon krampfhaft optimistisch an einen letztlich guten Verlauf der Menschheitsgeschichte glauben, was für ihn die Fähigkeit bedeutet, zu einer Gemeinschaft zu finden und einen gemeinschaftlichen Geist zu entfachen, der schließlich zu Gerechtigkeit und Frieden führt. Aber auf der anderen Seite bricht sich auch ein Pessimismus Bahn, der die gesellschaftliche und politische Entwicklung als einen Weg in die Katastrophe wahrnimmt.

In Bölls nächstem Roman, in den „Ansichten eines Clowns“, der im Frühjahr 1963 erscheint, scheint sich ein bereits in Teilen vollzogener Gesinnungswandel anzukündigen. Kritiker, die bislang eine Hinwendung zur Innerlichkeit konstatiert hatten, erkennen in dem Buch eine schonungslose Abrechnung mit dem Bonner Staat, besonders mit der CDU, einige sogar ein hasserfülltes antikatholisches Pamphlet. Aber wer ganz genau liest, entdeckt das alte Böllsche Humanitätsideal wieder, das jenseits der politischen Lager vor allem auf Barmherzigkeit setzt.

Dennoch: Der Schriftsteller tut sich noch schwerer als bisher mit der Wirklichkeit und das heißt vorrangig mit der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik. 1965 werden die ersten Notstandsgesetze verabschiedet, bei der Bundestagswahl siegt erneut die CDU trotz der Popularität des SPD-Gegenkandidaten, des Berliner Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, in Niedersachsen wird eine Große Koalition gebildet, der im Jahr darauf eine in Bonn folgt. Die NPD feiert erste Wahlerfolge und im weit entfernten Vietnam tobt der US-amerikanische Bombenkrieg. Heinrich Böll scheint zu resignieren. Und so schreibt er:
„Im Jahr 1964 konnte einer noch, was er heute beim besten Willen nicht mehr kann: auf die SPD hoffen.“ Und an anderer Stelle: „Die Moral des Autors ist im Augenblick schlecht, schlechter, als die der Truppe je war.“

Dem verleiht er Ausdruck in seiner Erzählung „Ende einer Dienstfahrt“, in der er in der Form der Humoreske eine für ihn neue Strategie entwirft, nämlich die der Verweigerung, gar die des zivilen Ungehorsams.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto: © Cover

Info: Rede von Klaus Philipp Mertens zur Veranstaltungswoche des Frankfurter Literaturvereins PRO LESEN aus Anlaß des 30. Todestags (16.07.1985) im Juni 2015.