a Heinrich BollHeute vor hundert Jahren wurde Heinrich Böll geboren. Erinnerungen an ihn, Teil 1/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Zum hundersten Geburtstag des Schriftstellers, der wie keiner die Bonner Republik als rückwärtsgewandt und kleinkariert, auch amoralisch kennzeichnete, kommt die Veranstaltungswoche des Frankfurter Literaturvereins PRO LESEN in Erinnerung, wo unser Kollege aus Anlass des 30. Todestags (16.07.1985) im Juni 2015 die folgende Rede gehalten hat, die auch heute gültig ist. Die Redaktion 

Bis in die frühen 50er Jahre hinein galt Heinrich Böll als ein besonderer Chronist des Zweiten Weltkriegs, dessen Blick auf das Schicksal der Opfer gerichtet war. Typisch dafür ist die Erzählung „Wanderer, kommst du nach Spa...“, die Reich-Ranicki seinem Kanon „Die deutsche Literatur“ hinzufügte.

Doch der Schriftsteller sah sein persönliches Kriegserleben keineswegs als Schlüsselerlebnis und ewiges Motiv seines Schreibens und äußerte sich dazu einmal so:

„Ich möchte gern hinter dieses Grunderlebnis kommen. Ich glaube wie gesagt nicht, dass es der Krieg war, wie man oft gemeint hat. Das muss früher gewesen sein. Der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft. Ein Urthema der Literatur. Ein Zerfall, der eben in den zwanziger und dreißiger Jahren so sichtbar war, dass er für mich ohne große ideologische Vorbereitungen zum Thema wurde, zum Stoff.“

Ihm, der am 21. Dezember 1917 in Köln geboren wurde, hat sich als Kleinkind die Rückkehr von Hindenburgs Armee über den Rhein am Ende des Ersten Weltkriegs bleibend eingeprägt. Auch die erste Schreinerwerkstatt seines Vaters im Hinterhof einer Mietskaserne ist ihm Zeit seines Lebens in der Erinnerung präsent. Trotz der Inflation zu Beginn der 20 Jahre gelingt dem Vater ein wirtschaftlicher Aufstieg und so kann sich die Familie sogar ein eigenes Haus kaufen. Über die Zeit nach dem Umzug in dieses Haus notiert Böll später:

„Acht Jahre lang wohnten wir in dieser Straße, die von zwei Lagern bestimmt war, dem bürgerlichen und dem sozialistischen (das waren damals noch wirkliche Gegensätze!), oder von den Roten zu den besseren Leuten ...Mich zog’s immer in die Siedlung, die wie unsere neu erbaut war, in der Arbeiter, Partei- und Gewerkschaftssekretäre wohnten; ...Meine Eltern störte es nicht, dass ich die meiste Zeit bei den Roten verbrachte.“

Doch die Weltwirtschaftskrise von 1929 trifft auch die Familie Böll. Die Insolvenz der Bank, bei sie sich das Geld für die Immobilie geliehen hatte, zwingt sie, ihr Haus zu verkaufen und zurück nach Köln zu ziehen. Das Leben am Rande des wirtschaftlichen Ruins wird für Böll zu einem entscheidenden Erlebnis:

„Dieses Gefühl, jetzt müssen wir wieder raus oder werden rausgeschmissen, war natürlich bitter, und trotzdem haben wir das auch auf eine merkwürdige Weise genossen. Es war eine Art Anarchismus, Nihilismus, Anti-Bürgerlichkeit, auch Hysterie, die mich bis heute geprägt haben. Wir waren keine Kleinbürger mehr, wir hatten aber die Erinnerung an Kleinbürgertum und an relativen Wohlstand.....Aber diese Erinnerung bedeutete keine „Sehnsucht nach dem bürgerlichen Leben mehr, sondern eine absolute und fast schon sehr bewusste Ablehnung aller bürgerlichen Formen, etwas, was ich ohne jede Ein­schränkung proletarisch nennen würde, bei gleichzeitiger sehr hoher Sen­sibilität gegenüber allen politischen Vorgängen“.

Wie sehr ihn diese Erfahrungen prägen, lassen Romanfiguren erkennen wie Frau Brielach (in „Haus ohne Hüter“) und Leni (in „Gruppenbild mit Dame“), deren - wie Böll es nannte „proletarischer Charakter“ sich aus entsprechenden Erfahrungen bildet.

Die Schilderung dieses Milieus lässt die Umrisse einer gesellschaftlichen Alternative durchscheinen, die angesichts des von ihm beobachteten Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft gefordert war. Zwar bleibt sie zunächst noch diffus, auch weil sie Begriffe verwendet, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen, z.B. Anarchismus, Nihilis­mus, Antibürgerlichkeit, Hysterie. Aber Anarchismus bleibt für Böll eine wünschenswerte Alternative. Allerdings im Sinne des seit Proudhon, Stirner und Bakunin definierten philosophischen Begriffs. Er hat sich später immer wieder dagegen gewehrt, Anarchisten mit Terroristen gleichzusetzen und vor allem der Springer-Presse vorgeworfen, auf einem „vergifteten Sprachgelände“ zu agitieren.
Anarchie, also Herrschaftsfreiheit, ist ihm gleichbedeutend mit Zärtlichkeit und so hat er der Charakterisierung seines Werks mit den Begriffen „Anarchie und Zärtlichkeit“ ausdrücklich zugestimmt.


Blenden wir noch einmal zurück.

Nach der Erfahrung der Wirtschaftskrise, des ökonomischen Ausgeliefertseins, stellt sich nach der Machtergreifung der Nazis nun die Erfahrung des politischen Ausgeliefertseins ein. Er hat Glück, bis zum Abitur 1937 eine Schule besuchen zu können, in die der neue Ungeist nicht einzudringen vermag. Allerdings weigern sich außer ihm lediglich noch zwei weitere Schüler, der HJ beizutreten. Doch die Verweigerung hat nicht nur moralische Gründe. „Ich mochte die Uniform nicht, und die Marschierlust hat mir immer gefehlt“, schreibt er später.

Nach dem Abitur beginnt er eine Buchhändlerlehre, die er jedoch im Januar 1938 abbricht, da im Herbst dieses Jahres die Einberufung zum Arbeitsdienst zu erwarten ist und er bis dahin lieber zu Hause bleiben möchte. Während dieser Zeit entstehen erste schriftstellerische Arbei­ten, die er nie veröffentlichen wird. 1939 beginnt er ein Germanistik-Studium, aus dem er nach drei Monaten zur Wehrmacht einberufen wird. Mitten im Krieg, 1942, heiratet er.

Während des Krieges versucht er, sich durch Krankmeldungen nach einer Verwundung dort aufzuhalten, wo wenig geschossen wird. In den letzten Kriegsmonaten desertiert er zunächst und lebt mit gefälschten Papieren bei seiner Frau Annemarie in der Nähe von Köln, kehrt schließlich kurz vor dem absehbaren Kriegsende in die Armee zurück, um wie er schreibt, durch eine geordnete Gefangennahme durch die Alliierten überleben zu können.

Bereits in den Erzählungen über den Krieg, die wie dargestellt nicht das Wesentliche bei Böll ausmachen, schält sich sein spezifischer Begriff des Humanen heraus. Dieses Humane besteht für ihn in den elementaren Dingen, in Wohnen, Essen, Trinken, Sprechen, Schlafen, Lieben oder, wie er es nennt, der Moral des Lebens, aber einer Moral ohne die Brutalität des so genannten Vitalen, ohne die Aggressivität, die dadurch entsteht, dass man zum Leben selbst, zu diesen elementaren Dingen immer mehr das Verhältnis verliert. Solcher aggressiven Vitalität stellt Böll seinen ironisch-positiven Begriff der „Abfälligkeit“ gegenüber:

„Abfall ist ja vieles in unserer Gesellschaft, in den Augen der meisten. Auch Menschen; abfällig im sozialen wie auch juristischem Sinne ... Man wird sehr schnell zum Abfall, wenn man nicht dauernd up to date ist ... Und so produziert unsere - aber nicht nur unsere - Gesellschaft natürlich permanent abfällige Existenzen, die man als Abfall betrachtet, und sie sind, meine ich, der wichtigste Gegenstand der Literatur, der Kunst überhaupt. Weil, jetzt negativ ausgedrückt: die Nicht-Abfälligen die Nicht-mehr-Lebenden sind.“

Doch trotz der positiven Interpretation des Abfälligen, wird auch Bölls Kritik deutlich. Nämlich die Kritik an jedweder Gesellschaft, die solcherart Abfall produziert.

FORTSETZUNG FOLGT

Foto: © boell.de

Info: Rede von Klaus Philipp Mertens zur Veranstaltungswoche des Frankfurter Literaturvereins PRO LESEN aus Anlaß des 30. Todestags (16.07.1985) im Juni 2015.