c Boll Gruppenbild mit Dame dtvHeute vor hundert Jahren wurde Heinrich Böll geboren. Erinnerungen an ihn, Teil 3/3

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In seiner dritten Wuppertaler Rede resümiert Böll Inhalt und Konsequenz aus der „Dienstfahrt“: „Dort, wo der Staat gewesen sein könnte oder sein sollte, erblicke ich nur einige verfaulende Reste von Macht, und diese offenbar kostbaren Rudimente von Fäulnis werden mit rattenhafter Wut verteidigt.“

So wird er fast gegen seinen Willen immer mehr hineingezogen in eine sich polarisierende gesellschaftliche Auseinandersetzung, der er sich lieber entzogen hätte. Als ihm 1967 der Georg Büchner Preis verliehen wird, bekennt er sich zu den Forderungen des „Hessischen Landboten“ einschließlich des Leitspruchs „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“

Obwohl er zunehmend parteilich wird, ist sein Engagement nicht parteipolitischer Art. Unbeirrbar stellt er sich an die Seite des „Abfalls“ der Gesellschaft - und er versteht damit auch den Widerstand gegen jegliche gesellschaftliche und staatliche Willkür und Machtüberschrei­tung. Angesichts der Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 schreibt er: „Es bleibt nur das eine: zersetzen, zersetzen, zersetzen.“

In dem Maße, in dem seine innere Radikalisierung zunimmt, nimmt sein Interesse an der Katholischen Kirche ab. Er erwartet sich von ihr nichts mehr und schließlich tritt er aus.

Als Festredner der Eröffnungsveranstaltung der „Woche der Brüderlichkeit“ im März 1970 fordert er, künftig „Vertreter einer verfemten Minderheit“ auf solchen Veranstaltungen sprechen zu lassen. Nämlich, wie er sich ausdrückte, „die Gammler, die Langhaarigen, die Schmutzfinken, die Obdachlosen, die Asozialen und auch jene adretten, auf Strebsamkeit angelegten Wohnungssuchenden.“

1971 erscheint sein Roman „Gruppenbild mit Dame“, der bald als bisheriges Resümee seiner schriftstellerischen Arbeit gilt und der in der Verleihungsurkunde für den Literaturnobelpreis ein Jahr später explizit erwähnt wird. Böll selbst charakterisiert dieses Werk so:

„Ich habe versucht, das Schicksal einer deutschen Frau zu beschreiben oder zu schreiben, die die ganze Last dieser Geschichte zwischen 1933 und 1970 mit und auf sich genommen hat.“

Leni, die weibliche Trägerin der Handlung, hat dabei buchstäblich eine Spiegelfunktion gegenüber dieser Geschichte. Bölls Schriftstellerkollege Dieter Wellershoff hat das mit seinen Worten anschaulich beschrieben:

„Es hat eine bildhafte Überzeugungskraft, dass hier in dieser Subgesellschaft etwas Neues beginnt, während die andere Gesellschaft zerstört wird. Und dann dreht sich das Ganze noch einmal. Wenn nämlich die Gesellschaft sich wieder formiert, dann gerät Leni allmählich ins soziale Abseits.“

Die Verleihung des Literaturnobelpreises macht Heinrich Böll zum gesuchten Interviewpartner der Medien. Und er nutzt diese Gelegenheiten, um sein Bild von einer gerechten und barmherzigen Gesellschaft zu beschreiben. Eine profitlose und klassenlose schwebt ihm vor, in der „der Mensch nicht arbeiten sollte über das hinaus, was er wirklich zum Leben braucht“. Dass seine Utopie nicht sehr weit entfernt ist vom marxistischen Modell einer klassenlosen Gesellschaft, sieht er zwar, aber es widerstrebt ihm, dies zuzugeben.

Die politische Diskussion der Bundesrepublik wird zu dieser Zeit von den Aktivitäten der RAF oder Bader-Meinhof-Gruppe/Bande bestimmt. Sie wird vor allem angeheizt durch Schlagzeilen und Berichte der BILD-Zeitung. Der wirft Böll Demagogie und das Entfachen von Hysterie vor und gerät damit endgültig in das Mündungsfeuer der rechtskonservativen Springer-Presse. Seine Antwort auf diese unterschiedlichen Versuche, ihn zu diffamieren, ist 1974 die längere Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder wie Gewalt entsteht“.

Dass er sich damit auf ein vermintes Gelände begeben hat, erkennt er rasch und veröffentlicht als Reaktion darauf mehrere politisch-satirische Erzählungen, z.B. „Erwünschte Reportage“, „Du fährst zu oft nach Heidelberg“, „Deutsche Utopien“ oder „Berichte zur Gesinnungslage der Nation“. Bei der Konzeption und Niederschrift der Texte erscheint ihm Literatur zunehmend auch als „Versteck des Widerstands“ oder als „Zeitzünderbombe“.

Die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im September 1977 durch die RAF und die Entführung der Lufthansa-Maschine durch palästinensische Kampfgefährten der deutschen Terroristen finden sich 1978 als Motive wieder in Volker Schlöndorfs Episodenfilm „Deutschland im Herbst“. Böll trägt dazu eine kurze Satire bei mit dem Namen „Die verschobene Antigone“. Dieser Beitrag enthält bereits Elemente seines nächsten Romans, der 1979 unter dem Titel „Fürsorgliche Belagerung“ erscheint und der inhaltlich vorwegnimmt, was erst 30 Jahre später als Überwachungsstaat, Missbrauch persönlicher Daten und Datenspionage der Geheimdienste Schlagzeilen macht.

Als der NATO-Doppelbeschluss eine Renaissance der Friedensbewegung hervorbringt, ist Heinrich Böll dabei und nimmt an mehreren Demonstrationen gegen die Stationierung von Atomraketen teil. Während dieser Zeit arbeitet er an einem Werk, das formal zwischen Roman und Theaterstück angesiedelt ist, weil es sich in Dialogen und Selbstgesprächen bewegt und die Frauen Bonner Politiker exemplarisch zu analysieren versucht. Es heißt „Frauen vor Flußlandschaft“ und erscheint im August 1985. Da ist Böll bereits tot, denn er starb am 16. Juli dieses Jahres an den Folgen einer erneut notwendig gewordenen Gefäßoperation.

Blickt man auf sein umfangreiches literarisches Schaffen, muss zugegeben werden, dass er kein Avantgardist war, der die literarische Entwicklung vorangetrieben hätte und folglich auch kein Jahrhundertschriftsteller wie Thomas Mann. Seine Erzählstoffe waren für Zeitgenossen nachvollziehbar, seine Erzählmuster überwiegend konventionell, seine Darstellungstechnik manchmal, vor allem in den späteren Erzählungen, unbeholfen. Doch wie kein zweiter hat er mehreren Lesergenerationen ihre eigenen Erfahrungen in Kriegs- u. Trümmerzeit, in der Restauration nach dem Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden kurzen Reformära und schließlich in den Jahren der konservativen »Wende« greifbar und transparent gemacht, indem er sie in mehr oder minder kunstvollen Geschichten wiedergab. Im Blick des Auslands wurde seinen Schriften sogar eine noch größere Bedeutung als im Inland zuerkannt.

Sein gesamtes Werk lässt sich als unabgeschlossene Aufeinanderfolge und Fortschreibung begreifen, weil es wie kaum ein anderes in dieser Epoche inhaltlich und hinsichtlich seiner Rezeption in den geschichtlichen bzw. zeitgeschichtlichen Prozess Westdeutschlands eingebunden ist.

Foto: © Cover

Info: Rede von Klaus Philipp Mertens zur Veranstaltungswoche des Frankfurter Literaturvereins PRO LESEN aus Anlaß des 30. Todestags (16.07.1985) im Juni 2015.