Tess Gerritsen läßt IN BLUTZEUGE zum zwölften Mal Jane Rizzoli & Maura Isles die Schuldigen bestrafen, Teil 2/2
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) - Denn daß es ein und derselbe Täter ist, ahnen die beiden Ermittlerinnen schnell. Obwohl alle äußeren Umstände andere sind, außer daß dieser Unbekannte ebenfalls tot ist. Aber in seinem Körper stecken Pfeile. Die waren nicht tödlich, denn sie sind erst in den toten Körper hineingetrieben worden.
Konnte man bei den Augen noch wegsehen, so sind die Pfeile im Körper aber nun für jeden, der um die Märtyrer der katholischen Kirche weiß, ein Alarmzeichen. Für jeden? Nein, nur für die, die die Bilder der Märtyrer gut kennen. Denn in diesen sind die Marterinstrumenten, mit denen sie gefolgert wurden und die ihnen den Tod brachten, als surreal anmutende Attribute groß herausgestellt. Eben die Augen bei der Heiligen Lucia und die Pfeile beim Heiligen Sebastian.
Und so kommt es, daß die kunstgeschichtlich bewanderte Leserin die Ermittlung schneller in die entscheidende Richtung treibt, denn sie weiß vor den beiden Ermittlerinnen, was das zu bedeuten hat. Es besteht ein Zusammenhang, aber um weiterzukommen, müssen nun noch die Geburtsdaten überprüft werden – und richtig, die beiden sind an den Namenstagen dieser Heiligen ermordet worden, aber warum die Augen bei Cassandra eine Rolle spielen und die Pfeile bei dem bald als 25jähriger Timothy McDougal identifizierten ledigen Buchhalter, das versteht erst mal keiner.
Aber in einer Art Parallelhandlung geschehen seltsame Dinge um Maura Isles. Ihre Mutter, die doch todkrank im Gefängniskrankenhaus liegt, schafft es, ihr über eine Fremde einen Karton mit zusammengewürfelten Gegenständen zukommen zu lassen. Auch Fotos und darauf sieht sie und erkennt ...
Nein, manche Dinge darf man nicht verraten, aber man darf andeuten, daß es da Rätsel über die Mordfälle hinaus gibt, aber auch, daß Maura diejenige von beiden ist, die zuerst auf die Märtyrer kommt und auch in der Folge unkonventioneller denkt, wenn sie nicht zu abgelenkt ist von ihren privaten Problemen, die sich – neben der Mutter – dadurch ergeben, daß sie ihre Trennung von dem Mann, den sie liebt, nicht durchhalten kann. Ja, er hat eine andere, aber nicht im herkömmlichen Sinne. Denn die andere ist seine Profession. Er ist evangelischer Pfarrer, für die sind ja Ehen erlaubt, aber er tut sich schwer damit. Und sie, die ihn für ein halbes Jahr verabschiedet hatte, hat nun sich selbst gegenüber eine gute Ausrede, seine Fachkenntnisse bei den Märtyrern und ihren Symbolen abzufragen, diese zu nutzen.
Ein schlauer Staatsanwalt hat da auch so einen Riecher, aber ehe er sich mit Rizolli und Maura weiter verständigen kann, ist der dritte Tote ermittelt. Und nun sind alle sensibilisiert und setzen fort, was sie mit den Überwachungsaufnahmen der beiden Beerdigungen in Gang gesetzt hatten. Denn, wenn es Zusammenhänge gibt zwischen den Toten, dann sind die Beerdigungsgäste verdächtig. Und richtig, eine junge blonde Frau fällt auf und verwirrt die Ermittlerinnen. Denn die Morde sehen doch nach einem Mann aus. Eine junge Frau?
Geschickt kommt zwischendurch immer die erste Icherzählerin zu Wort, die wir immer besser kennenlernen, für unsympathisch halten müssen und nach und nach verstehen, was sie mit der Ermittlung zu tun hat. Doch, Tess Gerritsen versteht ihr Geschäft, eine spannende, sehr ungewöhnliche Konstellation für verschlungene Wege zu nutzen, die im Nachhinein ihren Sinn noch erhalten. Denn auf einmal wird klar, daß die Toten sich kannten, daß sie als Kinder in einer privaten Betreuung, einem katholischen Kinderhort verbrachten, wo ein schrecklichen Vorfall alle für immer traumatisierte. Eines der Mädchen verschwand und der Sohn des Ehepaares Stanek wird auch ohne Leiche als ihr Mörder verurteilt; auch die Eltern kommen ins Gefängnis, da allen dreien sexueller Kindesmißbrauch vorgeworfen wurde. Einheitlich waren die Aussagen der kleinen Zeugen.
Wie nun im Nachhinein eine so sichere Sache nach und nach zerbröselt, wie felsenfeste Kinderaussagen zu einem schlüpfrigen Sumpf werden, wie sture Väter und intrigante Mütter ihre Kinder decken, anstacheln oder als Werkzeuge mißbrauchen, das schildert der Verlauf sehr eindrucksvoll.
Mehr muß man eigentlich nicht sagen, denn sowohl die eigentlichen Hintergründe wie auch das intelligente Aufklärerteam sorgen dafür, daß sich beim Lesen das Gewirr sehr übersichtlich entwirrt und der Sachverhalt eindeutig und klar vor einem liegt. Traurig, aber wahr. Und gekonnt und ohne Getue in spannender Manier niedergeschrieben. Man glaubt es kaum, der zwölfte Fall, aber weder Müdigkeit noch Wiederholung, sondern frisch und überzeugend erzählt.
Chapeau!
Info:
Tess Gerritsen, Blutzeuge, Limes Verlag 2017
Tess Gerritsen, Blutzeuge, gelesen von Tanja Geke und Britta Steffenhagen, gekürzte Lesung, 2 mp3 ca. 9 Std. 17 Min., Random House Audio, 2017
Der Titel BLUTZEUGE ist im Sprachgebrauch nicht allen bekannt. Blutzeugen sind in der christlichen Tradition diejenigen Menschen, die für ihren Glauben den Märtytertod erfuhren, erdulden mußten. Der Begriff Märtyrer ist also synonym mit ermordet worden zu sein, weshalb ihr Blut davon zeugt. Dem gegenüber sind andere Christen, die ebenfalls Marter und Verfolgungen erlitten haben, aber überlebt haben, als Bekenner gekennzeichnet.