kpm Precht TimmRückblicke auf die 68er Bewegung in einer Veranstaltung von PRO LESEN in Frankfurt

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Ewiggestrigen pflegen ihre Vorurteile. So wie Jörg Meuthen von der rechtsradikalen AfD: "Wir wollen weg vom links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland und hin zu einem friedlichen, wehrhaften Nationalstaat" bekannte er im Jahr 2016 auf dem Stuttgarter Parteitag dieser Gruppierung.

Solche und ähnliche dummen und gefährlichen Äußerungen waren für den Literatur- und Kulturverein PRO LESEN in Frankfurt-Sachsenhausen Anlass, Rückschau zu halten auf die so genannte Revolte der akademischen Jugend von 1968. Immerhin sind seither 50 Jahre verstrichen; eine Zeitspanne, lang genug für die Entstehung von Legenden und verfälschenden Interpretationen. Für einige, die dabei waren, wird das ein Anlass sowohl zu nostalgischen Erinnerungen als auch zu selbstkritischen Reflektionen sein. Und ein solches Jubiläum bietet auch Gelegenheit, verzerrte und allzu pauschale Darstellungen zu korrigieren. Bewusst lautete der Titel der ersten Themenwoche im Januar deswegen „Alles war anders“. Im Februar folgt ein zweiter Teil, der sich explizit mit den Vordenkern dieser großen Verweigerung beschäftigt: von Marx und Engels bis zu Adorno, Horkheimer, Marcuse. Nicht zu vergessen Hans Magnus Enzensberger, dessen Zeitschrift KURSBUCH als „Organ der Neuen Linken“ konzipiert war.

Alte und neue Kritiker der seinerzeitigen Vorgänge werden die Gelegenheit nutzen, um ihrem Ärger über die damals begonnene gesellschaftliche Erneuerung Luft zu machen. Und manche haben das bereits auf ihre Weise getan, so wie der zitierte Jörg Meuthen. Diese Aversionen kontrastieren auf entlarvende Weise mit jenem Pressefoto, das im November 1967 durch die halbe Welt ging. Zwei Studenten der Universität Hamburg enthüllen anlässlich der Rektoratsübergabe ein Transparent, auf dem zu lesen ist: „Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren“. Mit den 1000 Jahren wurde bewusst auf die NS-Diktatur angespielt. Und auf die Bereitschaft vieler Wissenschaftler, sich dem Unrechtssystem ohne Wenn und Aber anzupassen.

Die 68er Protestbewegung verstand sich als Gegenpol zur damals längst eingesetzten Geschichtsklitterung hinsichtlich der jüngsten deutschen Vergangenheit und ebenso als Antwort auf die Restaurationstendenzen der 50er Jahre, die von etlichen Demokraten als Renazifizierung empfunden wurden. Denn Bundeskanzler Konrad Adenauer störte es offenbar nicht, dass in seinem engeren Umfeld Altnazis wie Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts, und Theodor Oberländer, Bundesverkehrs- und Vertriebenenminister, Dienst taten. Das Rechtswesen war sogar überproportional durchsetzt von Juristen, die einst auf Biegen und Brechen das „Dritte Reich“ gerechtfertigt hatten. Vor allem, als sie den neu erlassenen Gesetzen gegen Andersdenkende und rassische Minderheiten einen scheinbar rechtsstaatlichen Charakter verliehen, indem sie diese mit manipulativer Absicht in die bisherige deutsche Rechtstradition einzuordnen versuchten. Ich denke neben dem bereits erwähnten Hans Globke auch an Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber, Karl Forsthoff und Gerhard Maunz.

Neben den innenpolitischen Entwicklungen erwies sich der Krieg in Vietnam als Stein des Anstoßes. Er war nach Überzeugung vor allem der jüngeren Menschen ein typisches Beispiel für eine menschenverachtende Machtpolitik. So verwundert es kaum, dass der Protest gegen den Vietnamkrieg zu einem Ventil wurde, um die gesamte politische Richtung, die nach 1945 eingeschlagen worden war, massiv anzuprangern. Diese Proteste wurden, vor allem in West-Berlin, auch mehrfach von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitetet. Die Eskalationen waren vor allem den verbalen Provokationen geschuldet, zu denen sich sowohl der West-Berliner Senat als auch die Bundesregierung hinreißen ließen. Und die Springer-Presse mobilisierte mit ihrer Berichterstattung im „Stürmer“-Stil das „gesunde Volksempfinden“.

Die protestierenden Studenten selbst unterschieden alsbald zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen. Diese theoretische Konstruktion erwies sich bereits rasch als Irrweg und als wenig hilfreich im demokratischen Widerstand.

Zu heftigen Kontroversen innerhalb der Studenten und ihrer Sympathisanten führte im Zusammenhang mit der Gewaltfrage ein Zitat von Karl Marx, das aus seiner Frühschrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ stammt. Es lautet: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. Unschwer setzte Marx auf einen breiten Bewusstseinswandel, der einem Gebrauch der Waffen überlegen sein und zu wirklichen Veränderungen führen würde.

Der Verein PRO LESEN griff Marx’ These auf, indem er eine Verbindung herstellte zu dem, was deutsche Schriftsteller über 1968 und die Folgen geschrieben haben. Denn vielfach erwiesen und erweisen sich diese erzählenden Analysen als nachhaltige Aufklärung im philosophischen Sinn des Worts. Als „Waffen der Kritik“ fungierten die Schreibmaschinen dieser Literaten. Und was mit ihrer Hilfe zu Papier gebracht wurde, erweist sich bis heute als nachhaltig.
Exemplarisch wurden die Bücher zweier Autoren zu Gehör gebracht. Zum einen der persönliche Rückblick des Germanisten und Philosophen Richard David Precht aus dem Jahr 2005, der den phantasievollen Titel trägt „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Und der Roman „Heißer Sommer“ des Schriftstellers Uwe Timm, der bereits 1974 erschien und der sich ebenfalls aus dem persönlichen Erleben des Autors speist. Er gilt als besonders gelungene literarische Darstellung dieses Zeitabschnitts.

In dem Publikumsgespräch, das sich an die Lesung anschloss, berichteten mehrere Zuhörer, dass ihnen die von den Schriftstellern geschilderten Erlebnisse und Empfindungen allzu bekannt vorgekommen seien. So, als hätten sie selbst, die Hörer und Leser, aus ihrem je eigenen Leben erzählt. Die Vergangenheit ist eben nie vergangen, sie lebt weiter in denen, die sich bewusst daran erinnern können und wollen und ihre Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben bereit sind.

Foto: Cover der erwähnten Bücher
© Goldmann Verlag und Deutscher Taschenbuch Verlag


Info:
Die erwähnten Büchern:

Richard David Precht: Lenin kam nur bis Lüdenscheid
Meine kleine deutsche Revolution
350 Seiten. Paperback. Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-15872-0

Uwe Timm: Heißer Sommer
340 Seiten. dtv-Taschenbuch
ISBN 978-3-423-12547-5