c staaatsrateDIE STAATSRÄTE. Elite im Dritten Reich von Helmut Lethen, Rowohlt Berlin, Teil 3/4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der Chirurg, der Jurist und der Dirigent besuchen zum ersten fiktiven Treffen den Theaterguru, abgeholt mit dem Horch-Cabrio Gründgens, der in sein Herrenhaus eingeladen hat, ein Schlößchen von 25-30 Zimmern. Wir verfolgen diese Einladung wie einen Film, so anschaulich werden die Gespräche in Raum und Zeit wiedergegeben, deren literarische Quellen – denn sie sind zwar fiktiv, diese Gespräche, aber nicht im luftleeren Raum erfunden – in Literaturhinweisen am Schluß angegeben sind.

Unglaublich, wie selektiv alle vier das Nazi-Deutschland sehen. „Jeder hat in seinem Fach einen fachspezifischen Stoizismus entwickelt. Eine Gleichgültigkeit gegenüber anderen Wirkungsräumen der Nazi-Diktatur, die zum Himmel schreit. Paradoxerweise empfindet sich keiner als Glied einer ‚Volksgemeinschaft‘. Alle vier bleiben Exzentriker auf den begrenzten Feldern ihrer Disziplin.“ (84)

Ein weiteres Treffen der Viererbande findet auf Einladung des Staatsratsvorsitzenden und späteren NS-Reichsmarschalls Hermann Göring auf seinem Sitz Carinhall statt. Aber schon wieder findet Lethen für sich eine geschickte Erzählposition: der Hausherr ist nicht da, seine Frau Emmy empfängt, wodurch nun der abwesende Göring erst recht Gesprächs- und Assoziationsanlaß ist, was der Erzählung neues Feuer gibt. Dann kommt er, aber wichtiger wird: „Die Herren sehnen sich nach Emmy Sonnemann und dem Buffet.“ (147) Ehegespinste sind meist abwesend vor. „Jetzt vermissen die Herren wirklich Marianne Hoppe.“ (101) Solcherart ist die Erwähnung von Frauen im Buch, daß sie nicht vorkommen, bleibt trotzdem wahr, denn sie treten nur als Gattinnen, Schauspielerinnen, kaum als eigenständige oder sogar arbeitende Wesen auf.

Zum dritten Treffen lädt Sauerbruch an einem heißen Spätsommertag 1939 zu sich nach Hause in die Villenkolonie Wannsee ein. Der Krieg bahnt sich an. Sauerbruch soll über Kriegschirurgie berichten, insbesondere seine Meisterschaft in der Prothesenanpassung, die durch den Krieg und die vielen Männer ohne Arme und Beine Bedeutung gewinnt. Wie das so ist mit den Muskeln am Amputationsstumpf und wozu sie nutzbar gemacht werden, erklärt er ganz genau. Der Körper als Lernmaschine, tauglich gemacht. Das war schon Napoleons Ansatz, den er nun weiterführt. Klar, die Menge an Versehrten kann endlich zu statistisch tragfähigen Forschungsergebnissen führen, welche Vorgehensweise am sinnvollsten ist. „Es hat doch etwas Entlastendes, denkt Gründgens, von Statistiken auszugehen, statt über Schein, Gracián, Volksgemeinschaft und Staat zu parlieren.“ (158)

Denn genau das machen sie unentwegt. Sie reden, ohne sich zu erreichen.

Der Krieg verändert alles, erst recht nach Stalingrad. Sauerbruch, der sich lange heraushalten konnte, verhält sich schizophren: er weiß um die tödlichen medizinischen Eingriffe an KZ-Häftlingen‚ zu Forschungszwecken‘ und schweigt. Er weiß um die Widerstandspläne gegen Hitler. Und schweigt. Schizophren ist nicht er, sondern die Situation, denkt er sich wohl.

Und dann lädt Sauerbruch erneut ein, zum vierten Treffen, das im April 1943, also nach der Niederlage von Stalingrad in der Charité stattfindet, wo er über den Schmerz referiert und allen Anwesenden deutlich wird, daß die Wehrmacht im Osten nicht mehr traditionell Krieg führt, sondern ein Vernichtungsfeldzug gegen die ‚minderwertige Rasse‘ des Ostens stattfindet.

Ach ja, zu den Frauen, den im Buch nichtexistenten. Da gibt es eine Ausnahme: Marianne Feuersenger, in Bayern bekannte Radio-, später auch Fernsehredakteurin, wird kurz erwähnt. Sie setzt, wie viele, dem täglichen Elend die klassische Musik entgegen, schaut sich jede Aufführungen unter Furtwängler an. Im Dirigentenzimmer in der Staatsoper Berlin findet dann auf Einladung von Furtwängler der fünfte und letzte Staatsräteabend im Juli 1944 statt. Um 22 Uhr!

Im gewissen Sinne sind die beiden Gespräche, die in Westdeutschland geführt werden, noch interessanter, weil sie die Lebenslügen aller Vier offener zeigen in ihrer Anpassungsmodalität an die neuen Verhältnisse, die für sie immer schon galten. Die verpaßte Chance des westlichen Nachkriegsdeutschland, hier kann man sie nachlesen.

Der sechste Abend findet im Juni 1955 in Düsseldorf statt, wo Gustav Gründgens über die Scham referiert, sie aber nicht hat. Und beim siebten Abend im Juni 1963, Sauerbruch ist schon gestorben, in Plettenberg, wohin sich Carl Schmitt zurückgezogen hat, läßt dieser sich über „die Entscheidung“ aus.

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© Cover Rowohlt

Info:
Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Rowohlt Berlin, März 2018