DIE STAATSRÄTE. Elite im Dritten Reich von Helmut Lethen, Rowohlt Berlin, Teil 4/4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ich will noch einmal deutlich herausstellen: der literarische Trick des Autors ist am Anfang die gedachte Anwesenheit von Gottfried Benn, denn wir hören ja alles mit seinen Ohren, sehen mit seinen Augen, reflektieren das Geschehen mit ihm, unser Autor Helmut Lethen ist nur der Mittelsmann, der das aufschreibt, wodurch das Ganze eine viel überzeugendere Plausibilität erhält, als wenn ein Nachgeborener sich seine Gedanken machte.
Die Niederschrift, die Beschreibung der Geistergespräche nimmt ja die Gedanken der einzelnen viel wichtiger, als ihre sprachlichen Äußerungen. Darum haben wir längst unsere Assoziation, einer Theateraufführung beizuwohnen, mit der Kinoleinwand ausgetauscht, wo dann Gottfried Benn vergleichbar der Erzählstimme (Matthias Brandt) in der Verfilmung von Anna Seghers TRANSIT durch Christian Petzold den Kommentar dazu gibt.
Aber nicht nur die Einschätzung von Gottfried Benn zu den glorreichen Vieren ist interessant, sie selber haben ja auch Einschätzungen den jeweils drei anderen gegenüber, die hier ausgiebig eine Rolle spielen und über die man sich oft amüsiert und denkt, wenn der wüßte ...Kleines Beispiel: „Strahlt Gründgens als Schloßbesitzer immer noch den gefährlichen Charme des Gemeinen aus, den die drei vom Weimarer Film und Theater kennen? Keine Spur, vorerst, findet Sauerbruch. Der Schein des Bösen täte mir auch gut, seufzt Furtwängler. Görings Spielzeug, denkt Schmitt.“ (87) Und weiter mit Schmitt über Gründgens: „Der Jurist erinnert sich an Diderots Paradox des Schauspielers: ‚Weil er nichts ist, kann er alles sein‘“ (87)„Außerdem hat sich Schmitt diesen Gesprächstermin nicht ausgesucht, er erwartet an diesem Abend viel Blendwerk, wenig Substanz.“ 87
„Furtwängler muß sich zusammenreißen, Gründgens als Youngster, immerhin ein Vierteljahrhundert jünger als er, nicht zu verachten. Das gleich Kaliber wie sein junger Konkurrent Karajan – oberflächlich erfolgsgeil, technikaffin. Sauerbruch hat die Fahrt im Cabriolet genossen, was nun kommt, ist ihm egal. Maximen der Konversation bestimmt normalerweise er: der Operationssaal – Diktatur im Kleinformat. Hauptsache, sie können sich nach fünfzig Minuten im Fahrtwind schlosswürdig stärken.“ (88)
Gründgens dagegen fragt sich, „wie er in diese peinliche Gesellschaft von Würdenträgern geraten ist. Zumindest ist er neugierig auf die Inkarnation des bösen Staatsrechtlers, der noch in seinem Rollenrepertoire fehlt.“...
Ein langes Gespräch über Handorakel, das Handbuch des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián von 1647, das man nach dem Vater von Nicolaus Sombart in Bibliotheken nicht suchen muß: Protestanten hätten keine Jesuiten nötig. Wenn es um Lebensweisheiten gehe, genüge ihnen Wilhelm Busch.“ (97)
Das sind herrliche Passagen, die für den Leser Luft und Licht in die Altherrenrunde bringen. Und außerdem können diese 300 Maximen (Link unten) sehr gut als Gesprächsassoziation benutzt werden, viel Stoff also, um von einem der vier „Geistesgrößen“ zitiert zu werden, was Sauerbruch absolut überfordert: „Ja, was denn nun? Sauerbruch versteht die Welt nicht mehr. Offenbar ist der erste Mensch, von dem die Rede ist, ein anderer, als der, der man auf keinen Fall sein darf. Ein vertrackter Fall.“ (104) „Zum Abschluß liest Schmitt Maxime Nr. 153 vor: ‚Keinen allzu deutlichen Vortrag haben. Die meisten schätzen nicht, was sie verstehen; aber, was sie nicht fassen können, verehren sie.‘“ (104) Genial, wie Lethen das ausschlachtet, was er erst einmal selbst in die Welt setzte.
Für uns geht dieser Trick auf, wir lesen zunehmend genervt von dem einen oder anderen, zunehmend aber auch hochzufrieden, wie hier mit den Mitteln der Fiktion Wahrheit entsteht. Denn es ist strikt zu unterscheiden, zwischen dem, was wirklich war und was so unwahrhaftig wie nur was sein kann, und dem, was als Extrakt von Wahrheit auf uns kommt. Wie hier Lethens Staatsräte.
Man könnte natürlich auch sagen: das ist wie auf einer Glatze Locken drehen. Aber wie er das macht, der Verfasser, das ist Kunst. Und Politik. Also Aufklärung.
Foto:
Verfasser Helmut Lethen © rowohlt.de
Info:
Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt, Rowohlt Berlin, März 2018
Die 300 Maximen des Gracián
http://www.in-mediation.eu/wp-content/uploads/file/top-secret/Balthasar_Handorakel.pdf