Frankfurt Buchmesse 2011, Teil 12: Claudia Schulmerich im Gespräch mit Nina Maria Marewski über ihren Roman „Die Moldau im Schrank“ aus dem bilgerverlag

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nina Maria Marewski wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren. Mit 16 Jahren brach sie, nach der Geburt des ersten ihrer beiden Kinder, die Schule ab und bestritt mit Gelegenheitsjobs ihr Leben. Es folgten zwei Jahrzehnte in einer Unternehmensberatung und eine Betriebsgründung. Heute lebt und schreibt Nina Maria Marewski in der Nähe von Zürich. „Die Moldau im Schrank“ ist ihr erster Roman und gehört in den Bereich der Phantastik, ist aber auch ein Liebesroman, ein Krimi sowieso mit Serienmörder, dessen Psyche auch eine große Rolle spielt, also kommt auch die Psychologie ins Spiel, mit einem Wort: das ganze Leben und das gleich mehrfach durch Grenzgänger.

 

 

Sie wissen, daß mich die Aufnahme Ihres Debütromans unter die kuriosesten Buchtitel – nach Luzia Braun hätten Sie gewonnen - darauf  brachte, das Buch zu lesen und mit Ihnen dies Interview zu führen. Nur der Leser weiß, was es auf sich hat, mit der Moldau im Schrank. Wollen Sie es hier verraten?

 

Ja, es erklärt sich ja im Grunde schon im ersten Kapitel, es geht dabei natürlich nur indirekt um den Fluß der Moldau, sondern um Smetanas Moldau, die man auf einer Spieldose abspielen kann, versteckt in einer Schatzkiste des kleinen Mitja, der sieben Jahre alt ist, als seine Mutter stirbt.

 

 

Wie könnte eine Inhaltsangabe des Buches, das der Verlag auch metaphysischen Thriller nennt, aussehen?  Fangen wir doch einfach mit den handelnden Personen an.

 

Also, da haben wir zum einen die Protagonistin Helena, die Icherzählerin, Ende dreißig, Mutter von drei Kindern, verheiratet, lebt in der heutigen Zeit in Frankfurt am Main, der an einem ganz normalen Tag an der Frankfurter Hauptwache augenscheinlich die Sinne schwinden, die also ohnmächtig wird. Sie findet sich aber stattdessen in einer Welt wieder, wo sie unsichtbar umherwandeln kann, aber nicht handeln kann. Dort trifft sie ihr zweites Ich. Da sind wir bei der zweiten Person, ihr Parallel-Ich, auch Helena, die ist Künstlerin, hat nie geheiratet und hat keine Kinder. Die erste Helena lernt es, zwischen den Welten zu wandeln und erfährt so, was aus ihrem Leben geworden wäre, hätte sie sich an einem Punkt im Leben anders entschieden, sprich: nicht geheiratet.

 

Jetzt kommt der kleine Mitja ins Spiel, den erleben wir zu Beginn des Buches im Berlin der 60er Jahre. Er ist der Sohn einer ehemaligen Primaballerina aus Rußland, die aufgrund der Schwangerschaft ihre Karriere aufgegeben hat und sich als Prostituierte in Berlin durchschlägt. Mitja hat ein dementsprechend schweres Leben, muß sich bei Besuch von Freiern im Schrank verstecken und unsichtbar bleiben. Als die Mutter dann auch noch stirbt an einem tragischen Unglück, an dem er nicht unbeteiligt ist, kommt er nach Hessen in ein katholisches Erziehungsheim, was seiner kranken Seele alles andere als gut tut.

 

Jetzt zurück zur ersten Person. Die wandelt immer wieder in die andere Welt, nimmt immer mehr teil an dem Leben, das sie heute führen würde, distanziert sich immer mehr von ihrer Familie, ist fasziniert davon, bis zu dem Tag, als sich ihr zweites Ich in einen Serienmörder verliebt. Jetzt möchte sie eingreifen und diese Helena warnen.

 

 

Alles andere soll der Leser mal gefälligst weiterlesen. Sie spielen also grundsätzlich mit der Möglichkeitsform, dem Möglichkeitssinn, den Robert Musil perfektionierte, was wäre, wenn ich…dies und das anders getan, mich anders verhalten hätte, was wäre passiert? Beispiele im Roman?

 

Natürlich lebt das Buch von den verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten, wie sie auch im Leben jedes Menschen zu finden sind. Hätte Mitjas Mutter beispielsweise ihn direkt nach seiner Geburt adoptieren lassen, wäre sein Leben völlig anders verlaufen. Ihres auch. Sie hätte ihre Karriere nicht aufgeben müssen und wäre am Leben geblieben. Hätte Helena nicht geheiratet, würde sie heute als Künstlerin Karriere machen, aber wäre immer noch auf der Suche nach der großen Liebe. So haben alle Entscheidungen Vor- und Nachteile und im Buch werden durch diese Parallelwelten die Folgen der jeweiligen Entscheidung oder ihrer Unterlassung als Leben fortgesponnen.

 

 

Nun setzen Sie aber im Bereich der Phantastik noch eins drauf.  Ihre Figuren, erst einmal die aus der ‚normalen‘ Welt und ihre Grenzgänger auf der anderen Seite treffen sich, können sogar in deren Körper schlüpfen. Sind eins, wobei nur die aus der ‚normalen Welt‘ sich dessen bewußt sind, also Agierende bleiben, gleichzeitig aber unsichtbar sind, durch sie können die Menschen hindurchschreiten und sie selbst können nicht einmal etwas anfassen.

 

Sie reisen geistig. Sie sind mit allen Sinnen unterwegs, ohne physisch anwesend zu sein. Sie reisen unsichtbar, praktisch wie ein Blick in einen Traum, was aus meinem Leben geworden wäre. Das ist der Einblick, den sie erfahren und sie bringen alle eine Voraussetzung mit: Sie sind Grenzgänger in der hiesigen wie auch in der Parallelwelt, von wo aus wir auch besucht werden, ohne daß wir es merken.

 

 

Aber auch dann passiert eine weitere Persönlichkeitsspaltung oder besser  –ausdifferenzierung: Sie errichten mehrere Parallelwelten. Auch die ‚normale‘ Helena ist eine zweite und erlebt in der ‚normalen‘ Welt eine eigene Geschichte, so daß wir inzwischen drei Helenas haben, eine, die treue Ehefrau und liebevolle Mutter ist, eine weitere, die sich in den Buchhändler Mitja verliebt und diejenige, die als gerade erfolgreich werdende Künstlerin von Markus verehrt, wenn auch nicht begehrt wird. Welche der dreien ist Ihnen die Liebste?

 

Das ist ganz schwierig. Ich glaube, am liebsten habe ich die zweite „Realo“ Helena, die sich in Mitja verliebt und auch was Neues ausprobieren will im Leben.

 

 

Ach was, lassen wir das Erklären. Dieses Buch muß man lesen, wenn man mitreden möchte. Darum die Frage: Wie sind Sie auf die Geschichte gekommen? Haben Sie „Alraune“ von Hanns Heinz Ewers oder „Die andere Seite“ von Alfred Kubin, beides phantastische Romane, im Hinterkopf gehabt?

 

Nein, eigentlich ist das ganz frisch, ohne Reminiszenzen an Vorgänger aus mir so herausgekommen. Aber die Nachbarschaft ehrt mich. Auf die Geschichte bin ich gekommen, als ich mich fragte, was wäre aus meinem Leben geworden, hätte ich mich an einem Punkt anders entschieden. Bei mir waren das der Verlust eines geliebten Menschen und die Frage, was haben meine Lebensentscheidungen  dazu beigetragen. Hätte ich es verhindern können, ja oder nein. Was wäre gewesen, wenn. Und diese Geschichte wurde dann immer größer und mächtiger.

 

 

Ihr Roman macht den Eindruck, daß  er den Leser nicht nur unterhalten soll, sondern daß man auch etwas daraus lernen kann.

 

Ja, ich möchte nicht belehrend sein, aber was sicher passieren wird, ist, daß der Roman nachdenklich stimmt, er unterhält und hält auch die Spannung, aber man überlegt als Leser selber, wieviele Möglichkeiten man hat und daß man immer mit seiner Entscheidung ein anderes Leben ausschließt, aber auch , wie sehr die eigene Entscheidung sich auf das Leben der anderen auswirkt. Ich denke, das bleibt hängen, dieses Spiel mit den Möglichkeiten und auch das Tröstliche, daß selbst, wenn man sich gegen etwas entschieden hat, was zur Katastrophe führt, wie in diesem Buch, daß man merkt, es gibt immer noch eine zweite Welt neben der unseren, in der das alles gar nicht passiert ist.

 

 

Und noch etwas ganz anderes: Aus dem Buch spricht eine große Vertrautheit mit und zu Frankfurt am Main.

 

Ja, Frankfurt ist meine Heimatstadt, ich liebe Frankfurt, ich fühle mich hier wohl, lebe zwar jetzt im Moment in Zürich, werde aber garantiert zurückkommen. Es ist eine Hommage an Frankfurt. Das liegt auch daran, daß ich mich natürlich in der Parallelwelt so richtig austoben konnte, daß ich schreiben konnte, wie Frankfurt städtebaulich aussähe, wenn dort andere Entscheidungen gefallen wären. Ich hatte eine riesige Spielwiese.

 

 

Im Ernst, Sie sollten das Buch nicht nur als Liebesroman, sondern auch als Liebeserklärung an Frankfurt verkaufen. Dazu gibt es in Frankfurt schon inzwischen drei Läden, die nur Frankfurt/Hessenspezifisches anbieten. Wie sieht man unsere Stadt aus der Entfernung von Zürich?

 

Nostalgisch. Wenn ich von Zürich auf Frankfurt gucke, sage ich, es ist Heimat und wird im Herzen immer sein. Das habe ich in Zürich noch nicht gefunden, obwohl es die objektiv schönere Stadt ist und die reizvollste Landschaft drumherum hat. In Frankfurt aber merkt man die Lebendigkeit und woanders vermißt man diese kleine Weltstadt, die Frankfurt ist.

 

 

Gibt es etwas, was Sie von mir gerne gefragt worden wären?

 

Vielleicht, wie es überhaupt dazu kam, daß das Buch verlegt wurde. Das war eine ganz witzige Geschichte. Ich hatte ja nie vorgehabt, ein Buch zu schreiben. Ich habe meine Kinder ernährt, ich habe gearbeitet in der Unternehmungsberatung, dann kam diese Geschichte in meinen Sinn und ich habe sie aufgeschrieben, weil sie so groß und komplex wurde und mich so faszinierte, daß ich sie niederschreiben mußte und hatte dann irgendwann 700 Seiten Manuskript unterm Arm, bin nach Zürich gezogen, wußte überhaupt nicht, ob ich das jemals veröffentlichen kann, kannte keinen Verleger, wußte nicht, ob ich überhaupt schreiben kann, fühlte mich einsam, bin jeden Tag mit dem Hund am See spazieren gegangen, danach in ein Café, da setzte sich ein Mann dazu, sprach mich auf den Hund an, das war eine eigenartige Art,  mich kennenzulernen.

 

Er fragte nach, was ich hier treibe und ich wollte nicht als Hausfrau durchgehen und von meinem Mann erzählen, dem ich hierher gefolgt bin, sondern antwortete: „Ich bin unveröffentlichte Schriftstellerin.“ Daraufhin er: ‚Das tönt interessant. Ich kenne einen Verleger‘. Das war dann für mich interessant. „Hier ist meine Emailadresse…“. Ricco Bilger war dann der erste Verleger, der mein Manuskript überhaupt zu Gesicht bekam, las es und hat es zum Buch gemacht.

 

 

Sie finden auf Seite 208 sehr wahre Worte über den Tod geliebter Menschen für die Weiterlebenden…

 

Ja, das ist der persönlichste  Teil des Buches. Alles andere ist Fiktion. Da habe ich ein kleines Stück Biographie verarbeitet, nämlich die Frage: Hat meine Entscheidung, die ich mit 16 Jahren traf (ein Kind zu bekommen, C.S.), zur Krankheit und Tod meiner Mutter geführt. Das versuchte ich, mir selbst zu beantworten. Das war sicher eine kleine Form von therapeutischem Schreiben in diesem einen Kapitel und hatte dann auch etwas Tröstliches.

 

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