Frankfurt Buchmesse 2011, Teil 15: Claudia Schulmerich im Gespräch mit Johano Strasser über seinen Roman „die schönste Zeit des Lebens“ , erschienen bei LangenMüller

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Johanno Strasser, 1939 in Leeuwarden in den Niederlanden geboren, lebt seit 1946 in Deutschland. Seit 1983 arbeitet der studierte Philosoph und Politologe als freier Schriftsteller und Publizist. Seit 2002 ist er Präsident des deutschen P.E.N. Neben zahlreichen Essay- und Erzählbänden hat er mehrere Romane veröffentlicht.  Der neue aus dem Verlag LangenMüller hat einen jungen Zivildienstleistenden zur Hauptfigur.

 

 

 Der Titel spielt wohl auf die Vorurteile an, die ich selbst als Jugendliche hörte, und die im Schlager „Mit siebzehn kann man noch träumen“ konterkariert werden? Wie kamen Sie auf  Robert, ihren jugendlichen Helden?

 

Das ist immer ganz schwer zu sagen, wie man plötzlich auf eine Figur kommt und dann auch noch der Name feststeht und nichts mehr zu ändern ist. Das ist ein sehr komplexer Vorgang. Natürlich, ich habe Kinder und hatte beobachtet, wie mein Sohn damals Zivildienst gemacht hat, wie er ohne vorbereitet zu werden, auf ganz schwierige Situationen gestoßen ist und wie er dabei gereift ist. Das spielt natürlich mit in diese Figur hinein, aber was mich fasziniert hat, ist die Vorstellung, was passiert mit einem Jungen, der aus einem Elternhaus kommt, in dem fast Sprachlosigkeit herrscht, wenn er dann über den Zivildienst zu einer älteren Dame kommt, die Bibliothekarin war, nicht mehr richtig sehen kann, deshalb sich vorlesen läßt und er nun in eine völlig andere Sprachwelt hineinkommt. Ein großes Glück für diesen Jungen. Diese ältere Dame spürt sofort, was dieser junge Mann braucht, ist Nahrung für die Seele. Sie macht das ganz geschickt, daß er die‘ richtigen‘ Bücher selbst auswählt, vorliest, dann stellt sie ihm Fragen, kommt in ein Gespräch mit ihm und er entdeckt plötzlich, daß es in seinem Leben noch ganz andere Möglichkeiten gibt als bisher gedacht.

 

 

Diese alte Dame ist doch eigentlich auch die einzige positive Figur im Roman. Welchen Problemen sieht sich Robert gleichzeitig gegenüber? Konkret: Familie, Clique, erste Liebesgefühle, Beruf ?

 

Roberts Elternhaus ist sicherlich nichts, was man seinen Kindern wünscht. Der Vater ist in Frühpension geschickt worden aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit, neigt in seiner Hilflosigkeit zur Gewalt, die Mutter steht zwischen Sohn und Ehemann und sucht verzweifelt, die Familie zusammen zu halten. Das ist eine nicht günstige Ausgangssituation, um es nett zu sagen. Aber ich glaube nicht, daß diese Figuren alle negative Figuren sind. Auch der Vater hat seine zarten Seiten, die völlig verkapselt sind, die manchmal zum Ausdruck kommen, wenn er sinnend auf der Terrasse steht, wenn er allein in die Landschaft geht und über sich und die Dinge nachdenkt, die Mutter finde ich bei aller Wehleidigkeit, die sie auch an sich hat und Unterwürfigkeit diesem gewalttätigen Mann gegenüber, dann doch wieder auch eine, die in einem erstaunlichen Maße Kraft aufbringt, um ihr Schicksal zu bewältigen. Es gibt in diesem Buch eben nicht durchweg positive oder negative Figuren. Wenn man einen Roman schreibt, muß man allen Figuren Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn man darf sie nicht als Argumente für eine These benutzen.

 

 

Diese andere Seite des offensichtlichen Ekels haben Sie auf Seite 171 deutlich gemacht, wo es heißt:“Aber vielleicht schaut Egon Markmann gar nicht aus dem Fenster nach draußen, sondern in sich hinein, und weiß es nur nicht.“ Stellen Sie doch bitte deshalb nach Robert, den Eltern, der alten Dame,Frau Sternheim,  die weiteren handelnden Personen, die Clique und Fari aus ihrer Perspektive vor.

 

Aus der Clique ragt eine Figur hervor, das ist Andi. Der ist auch zwielichtig. Der ist einerseits jemand, der eine ältere Frau, die Zeitungsausträgerin, anfährt, dann Fahrerflucht begeht, was ja kein netter Zug ist, andererseits aber ist er mutig und setzt sich für seinen behinderten Bruder ein und nötigt auch dem Robert dadurch Achtung ab. Andi ist der einzige in der Clique, der nicht Abitur gemacht hat, mit dem Argument: „Arbeitslos kann ich auch so werden, dazu brauch ich keine Abitur!“, was etwas aussagt über die Situation von jungen Leuten heutzutage. Andi bringt sein gewalttätiger Einsatz für den Bruder -  er hatte einen Kellner, der den Behinderten des Cafés verwies einen Schlag mit dem Schlagring versetzt – große Probleme; er geht deshalb ins Ausland, heuert auf einem Trampliner und verschwindet. Diese gesamte Clique ist für Robert ungeheuer wichtig, weil sie ihm so etwas wie Schutz und eine Art Ruhezone bietet, weil dort nicht in ihn gedrungen wird, weil nichts erwartet wird, er muß nicht immer Begründungen liefern für das, was er tut. Die Frau Sternheim, die ist ja völlig anders. Die läßt ihn nicht in Ruhe. Sie provoziert ihn in einem positiven Sinne dazu, sich mit Dingen zu beschäftigen, mit denen er sich vorher kaum, ach was, gar nicht beschäftig hat, wie beispielsweise mit Dichtung, mit Rilke und den anderen Dichtern. 

 

 

Wie kamen Sie auf die wunderbare Idee des Vorlesens, daß also Robert durch das Vorlesen für eine alte Dame das Lesen für sich selber entdeckt und Sie als Autor elegant ganz bestimmte Bücher der alten Dame in den Schrank stellen, die nun wiederaufleben in Ihrem Roman. Mich berührte das so, weil ich im Jahr 2000 einer über 90jährigen erblindeten Tante die Wochen lang in London vorlas. Haben Sie Vorleseerfahrungen?

 

Ja, ich habe natürlich meinen Kindern vorgelesen. Das ist aber nicht dasselbe. Ich habe in Berlin einem gelähmten früheren Autor vorgelesen, der noch dazu halbblind war, ich glaube, daß dieses Vorlesen tatsächlich insofern interessant ist, weil das Gelesene dann im Raum steht, wenn man es selbst ausspricht für einen anderen. Man sieht auch, wie es wirkt auf einen anderen. Bei Lesungen mit einem großen Publikum kann man das im einzelnen nicht so genau verfolgen, aber wenn man einem einzigen Menschen etwas vorliest, sieht man, wie sich das im Gesicht spiegelt, da merkt man plötzlich so etwas von der Wirkung von Literatur. Für diesen Robert erschließt diese Sprache aus Büchern einfach eine neue Welt. Er hat Gedichte gelesen von Rilke, von Hofmannsthal und fährt mit dem Fahrrad durch seine Heimatstadt und sieht plötzlich alles anders. Ich bin fest davon überzeugt, daß die Sprache, insbesondere die literarische, die poetische Sprache solchen Zauber vollbringen kann. Ich selbst bin als Kind und Jugendlicher ganz wesentlich über das Lesen von Literatur ins Leben gekommen. So merkwürdig das klingt: Man kriegt plötzlich ein ganz anderes Verhältnis zu den Dingen, den Menschen, wenn man Begriffe und Einordungsschemata und Deutungsschemata im Kopf hat, mit denen man an die Dinge herangeht.

 

 

Man kriegt durch Lesen Lebenserfahrung und zwar soviel, wie keiner es in einem einzigen Leben vermag. Literatur ist gelebtes Leben, fiktives, das man sich quasi als eigenes einverleibt. Was war oder ist überhaupt  „Ihre schönste Zeit des Lebens“?

 

Meine eigene? Ich habe ein Talent, das Leben zu genießen und neige nicht unter der unter Autoren sehr verbreiteten Larmoyanz, nicht genug beachtet zu werden oder verkannt zu sein. Ich bin schon als Kind mit einer großen Lebenszuversicht ins Leben gestartet und habe das nie abgelegt. Für mich ist das Leben insgesamt eine hochinteressante und mich immer wieder stimulierende Angelegenheit. Der Titel dieses Buches ist natürlich ironisch, weil der Rektor beim Abitur dieser Jungen gesagt hat: „Jetzt tretet Ihr ein in die schönste Zeit des Lebens. Ihr habt die Schule hinter Euch, braucht noch nicht in den Beruf zu gehen.“ Es kommt alles völlig anders, so problemlos ist das heute überhaupt nicht, es ist für diese jungen Leute ungeheuer schwer, ins Leben zu finden, weil es heute dafür keine Formen mehr gibt. Es gibt keine Lebensläufe, Laufbahnordnungen mehr, die Soziologen sagen den jungen Leute: „Ihr habt die große Freiheit, Ihr könnt auswählen, macht Euer Ding.“ Aber wie soll man als junger Mensch herausfinden, was das Ding ist, was man machen soll. Und in dieser Schwierigkeit stecken all diese jungen Leute in dieser Phase, die angeblich die schönste Zeit des Lebens ist, für sie aber mit Haken und Ösen verbunden.

 

 

Sie wissen, hier und heute geht es um den Autor Johano Strasser. Sie wissen aber, daß ich Ihre Funktion als Präsident des deutschen P.E.N. sehr gerne anspreche, noch dazu, wo Sie gerade von der Pressekonferenz des P.E.N. auf der Buchmesse kommen. Was sind heute die größten Probleme in der Welt, in Europa, in Deutschland?

 

Oh, Gott, da könnte man abendfüllend darüber reden. Die Sicherung der Freiheit des Wortes ist immer noch ein riesiges Problem. Viele haben ja wohl gedacht, daß es nach 1989, als das Sowjetimperium zusammenbrach, dramatisch besser würde, aber nein, dies ist nicht der Fall gewesen. Wir haben heute in sehr vielen Ländern, China natürlich, aber auch in der arabischen Welt, in Afrika, in Mexiko und in vielen anderen Ländern, auch in Rußland und den heutigen Staaten der alten UdSSR massive Probleme: Viele Journalisten werden drangsaliert, werden ermordet, auch gerade in Rußland, in Mexiko ist es heute am schwierigsten, als Schriftsteller zu überleben. Also die Probleme für den P.E.N. sind größer geworden, aber es hat sich auch herausgestellt, daß sehr viel mehr P.E.N.-Zentren sich in den letzten Jahren aktiviert haben. Ich war gerade auf dem internationalen P.E.N.-Kongreß in Belgrad, dort waren sehr viel afrikanische P.E.N.-Zentren mit sehr viel neuen, jungen Leuten, die nicht mehr über die Folgen des Kolonialismus schwadronieren, sondern sagen, wir müssen die Dinge selbst anpacken, natürlich aus dem Maghreb, wo sich mit Tunesien und Ägypten vieles getan hat, aus dem asiatischen Raum ebenfalls. Diese jungen Leute, die jetzt überall auf der Welt, auch in den USA, was ganz wichtig ist, wieder auf die Straße gehen, die lassen mich doch ziemlich optimistisch in die Zukunft schauen. Da ist wieder etwas in Gang gekommen, was ich lange  Zeit vermißt habe.

 

 

Und Probleme in Deutschland?

 

Ich denke, daß das in Deutschland auch kommen wird. Ich weiß das von meinen eigenen Kindern. Wir haben eine so radikal ungerechte Verteilung in Deutschland, daß das auf Dauer nicht haltbar ist, wir haben ein Bildungssystem, das..

 

 

Nein, ich meinte nicht gesellschaftliche Probleme in Deutschland, sondern für den P.E.N.?

 

Für den P.E.N.? Natürlich gibt es eine Menge zu tun. Es gibt eine Austrocknung der Kulturbereiche in der Konsequenz der Sparpolitik, wir haben die Problematik bei den Zeitungen, die natürlich ihre Anzeigen verloren haben durch das Internet und in Finanzierungsschwierigkeiten gekommen sind, wir haben Monopolisierungstendenzen im Verlagswesen, andererseits auch wieder Neugründungen von kleineren Verlagen, aber insgesamt im Buchhandel haben wir die großen Ketten, die dazu neigen, nur wenige Titel auf großen Stapeln vorrätig zu halten, so daß die Gefahr besteht, wenn diese Tendenz so weitergeht, daß irgendwann die Vielfalt der Kultur bei uns nicht mehr in der Weise vorhanden ist, wie es der Fall war. Es gibt also auch bei uns große Probleme.

 

 

Hat es eigentlich irgendwann eine Reaktion auf  Ihren Einsatz für die aus Italien im Bündnis von Vatikan und dem Berlusconi Verlag Mondadori vertriebenen Italiener Rita Monaldi und Francesco Sorti gegeben? Die hatten ja das Pech, einen ersteinaml sehr erfolgreichen Roman „Imprimatur“ zu schreiben, wo Vatikan und Verlag zu spät merkten, daß dort die Schandtaten ausgerechnet des Papstes ausgebreitet wurden, den der Vatikan gerade heiligsprechen wollte, was dann unterblieb und das Buch verboten wurde.

 

Ja, das ist ein Skandal, daß in Italien nicht nur die Regierung und das Establishment auf unseren Einsatz nicht reagiert haben, sondern auch der dortige P.E.N. Club auf unsere wiederholten Anfragen nicht geantwortet hat. Ich hoffe, daß sich das auch dort ändert, wenn sich in Italien etwas politisch ändert und das steht ja wohl an. Es ist in der Tat unerträglich, daß ein Buch, das vatikankritisch ist, das sich kritisch auch mit dem Papst auseinandersetzt, daß dieses einfach nicht erscheinen kann oder nach der erfolgreichen ersten Auflage stillschweigend blockiert und damit verboten wird. Es gibt ja nirgends genaue Äußerungen oder Begründungen dazu. Nur erscheint de facto das Buch nicht. Wir haben ja auch hier auf der Buchmesse einmal dazu etwas gemacht, ohne Echo, in Deutschland schon, es gab hier und da einen Bericht, aber in Italien kein Wort, nichts.

 

 

Ich möchte Ihnen gerne noch sagen, daß ich Ihr Buch sehr gerne gelesen habe, weil es einfühlsam die „schwierigste Zeit“ des Lebens wiedergibt. Man sollte Lesungen in Schulen und unter jungen Leuten machen.