„Sommerfrauen I Winterfrauen“ von Chris Kraus im Verlag Diogenes
Hanswerner Kruse
Der Roman, tagebuchartig in Ich-Form erzählt, entführt uns in den 1990er-Jahren nach New York. Dort landet der junge, etwas verklemmte Jonas Rosen in einem der übelsten Slums der Lower East Side, in dem er gleich bei der Ankunft einen Überfall nur aufgrund seiner Naivität überlebt. Der deutsche Filmstudent kommt dort bei dem verlotterten Filmprofessor Jeremiah unter: „Am Ende des Flurs sah ich eine riesige, massige Gestalt stehen. Ich dachte gleich: Was für eine unglaubliche Traurigkeit! Die Traurigkeit schlurfte in aufgeknöpften, orangerotem Hawaiihemd und kurzen Safari-Hosen auf mich zu und bot mir eine schlaffe Hand an.“
In der stinkenden, mit Müll vollgestopften Wohnung bewahrt Jeremiah in Urnen die Asche seiner (wörtlich:) um die Ecke umgebrachten Hipster-Freunde auf. „Trotz der verpissten Promi-Briefe in seiner Wohnung kann ich nicht fassen, dass dieser verhärmte, verwahrloste, verfressene Fleischberg mit allen Größen des amerikanischen Undergrounds befreundet war...“
Jonas soll Quartiere für weitere, bald eintreffende Filmstudenten suchen und mit ihnen bizarre Sex-Filme drehen. Ein Projekt, das von 3sat finanziert wird. Im New Yorker Goethe-Institut begegnet ihm die deutsche „Sommerfrau“ Nele, die sich mit ihrer lockeren Lebendigkeit von seiner eifersüchtigen, vietnamesischen „Winterfrau“ Mah in Deutschland mächtig unterscheidet. Nele reitet nachts auf einem verloren gegangenen Polizeipferd durch den Central Park oder treibt anderen Schabernack.
Als die ganze Geschichte wirklich eine Groteske wird, die auch ziemlich grotesk erzählt wird, kommt „Tante“ Paula ins Spiel: Eine reiche jüdische Künstlerin, die ebenfalls in New York lebt und ihren „Neffen“ unbedingt unterstützen will. Sie hat durch die Hilfe seines Großvaters, einem hochrangigen brutalen Nazimörder, die Lager und den Holocaust überlebt und ist später die Witwe eines steinreichen US-Amerikaners geworden. Jonas will mit ihr und dem ganzen „Nazischeiß“ nichts zu tun haben. Aber irgendwann muss er sich der Vergangenheit seiner Familie stellen und schließlich einige überraschende Entscheidungen treffen.
Der Autor, Chris Kraus, ist ein leidlich bekannter deutscher Filmemacher („Die Blumen von gestern“), das merkt man seinem Roman an: Er ist ein präziser Beobachter und Erinnerer, der mit seinem Sinn für schrägen Humor großartige literarische Bilder schafft. Immer wenn man denkt, nun verliert sich der Autor völlig im Abstrusen, kann er auch ernst und berührend werden, gleitet dabei aber nie ins Pathetische ab. Das Buch ist wie ein Film mit fantastischen Geschichten, jedoch mit biografischen Einsprengseln des Autors. Bekannte deutsche Kulturschaffende tauchen mit leicht verfremdeten Namen auf - so wird etwa Rosa von Praunheim zu Lila von Dornbusch.
Fazit - ein eigenartiger lesenswerter Roman, in dem man viel über die Unterschiede von Sommer- und Winterfrauen erfährt und ganz am Ende, für welche Jonas sich entscheidet.
Chris Kraus „Sommerfrauen I Winterfrauen“, Diogenes-Verlag, gebunden 414 Seiten, 24 Euro (auch als eBook und Hörbuch mit Lars Eidinger / Paula Beer)