Frankfurter Buchmesse, Teil 18: Der langsame Tod der Phantastik
von Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Absolut phantastisch, was da mit der Phantastischen Literatur passiert! Nämlich nichts, schlimmer: sie stirbt einen langsamen, von kaum einem bemerkten Tod, während sich ihre skandalträchtige und mit Hollywoodschinken belohnte Stiefschwester namens Fantasy ausbreitet, ja geradezu Triumphe feiert, viele Verehrer hat und Verlobungswillige, Heiratsanträge per Dutzend und dann auch noch einheiratend in die bessere Gesellschaft, will sagen, ins Internet und Blogs und sonst was, was heute den Literaturbetrieb stärker zum Betrieb denn zu Literatur macht.
Aber wir wollen weder witzig, noch abschätzig urteilen, sondern eine Entwicklung benennen, die lautlos vonstatten geht. Gegen das Lautlose haben wir etwas, aber auch gegen die Entwicklung. Wir wollen fragen: Warum? Warum also gibt es bei der Frankfurter Buchmesse, fragt man nach Phantastischer Literatur und entsprechenden Ausstellern, die Antwort: Null. Warum aber hört man, fragt man nach den Ausstellern zu Fantasy auf der Frankfurt Buchmesse, gleich die Anzahl von 212! Wir haben uns diese Aussteller ausgedruckt, um genauer zu verstehen, was da passiert.
Vorher aber sollte man selbstkritisch und kritisch noch einmal die Literaturgattung der Phantastik anschauen und mit Fantasy vergleichen, sprich, was also die heutige Literaturwissenschaft dazu sagt. Traditionell verbanden sich mit Phantastik Schriftstellernamen wie E.A. Poe oder E.T.A. Hoffmann, wobei das Genre im 19. Jahrhundert äußerst beliebt wurde und um und nach der Jahrhundertwende die Blütezeit herrschte, wo ein Hanns Heinz Ewers mit „Alraune“ Bestseller landeten und Alfrd Kubin zu seinem esoterischen Text in DIE ANDERE SEITE seine wundersamen Zeichnungen kongenial hinzufügten. Oder sind das okkulte Texte und wie verhält es sich mit dem Spiritualismus?
All diese Bezeichnungen hatte der Begriff der literarischen Phantastik mitaufgenommen, der gleichwohl so unscharf verlief, wie jeder Begriff, in den man lebendige Literatur hineinzwängt. Gleichzeitig hilft ein Einordungssystem wiederum auch dem Leser. Der Literaturwissenschaftler Uwe Durst hatte einst die Vielzahl von Deutungen zwei unterscheidbaren Bereichen zugeordnet: einer maximalistischen und einer minimalistischen Definition, die wir grob wiedergeben. Der ersten, der maximalistischen, Definition werden alle in der fiktiven Welt spielenden Texte zugeordnet, in der unsere Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, ohne daß dies zu Zweifeln am Text führt, wobei wir hier nicht unterscheiden zwischen biblischen Texten, Mythen oder spätere als übernatürliche beschriebene Ereignisse.
Tzvetan Todorov, französischer Strukturalist wird für die minimalistischen Definition herangezogen. Er hatte das Phantastische vom Wunderbaren unterschieden. Das Wunderbare ist, wie der Name schon sagt, durch ein Wunder, also nur übernatürlich erklärlich und darum eigentlich nicht phantastisch. Das Phantastische aber läge grundsätzlich im Auge des Betrachters. Der Leser also muß entscheiden, ob das, was ihm als undurchschaubare Geschichte vorgelegt wird, durch die Geschichte selbst als Phantastik ausgewiesen ist, oder ob viele Fallstricke der Wirklichkeit so in den Text hineingebaut sind, daß der Leser nur verführt wird, an eine Übernatürlichkeit zu glauben, bei logischem Durchgehen des Textes sich aber mit dem Text in der Wirklichkeit wiederfindet. Wir Leser allerdings wissen, daß es Texte gibt, bei denen wir nicht unterscheiden können, was absichtsvolle Täuschung des Autors ist oder gar, was einer im Drogenrausch, als Verrückter oder Betrunkener niederschreibt.
Helfen diese Definitionen, die Phantastik sinnvoll gegenüber anderen Literaturgattungen abzugrenzen. Nein. Wichtiger wäre vielleicht eine Ansammlung von Zuständen zusammenzutragen, wie sie typisch für Phantastische Literatur wären: wie Verwandlungen, Zwischenwelten, Doppelt- und Dreifachwelten, aus der wirklich Welt durch einen Zugang in eine imaginäre zu gelangen und umgekehrt, in die Wirklichkeit zurückkehren zu können. Immer also ist es ein Riß, eine Lücke, die uns von der allen wahrnehmbaren Welt in eine andere führt. Das Gleiche gilt für Stimmen, die nicht jeder hört oder Zeichen, die nur Auserwählten sichtbar sind. Wichtig bleibt die Funktion des Erzählers, nämlich, ob dieser glaubwürdig uns Führer und Aufklärer aus nicht deutbaren Beschreibungen ist, oder ob schon in ihm die Spaltung der Welt vollzogen wird und wir seinen Lügen Glauben schenken (müssen). Beispielsweise hat gerade dies Edgar Allan Poe mit Meisterschaft beherrscht.
In und außerhalb der Literaturwissenschaften wird heftig darum gerungen, denunziert und verteidigt, ob die Phantastik politisch rechter Gesinnung anheimfällt oder im Gegenteil potentiell emanzipatorischer Haltung aufweist und damit positiv gesellschaftsaufklärerische Kraft vermittelt. Das nun liegt erst recht im Auge des Betrachters und immer werden Elemente von Grenzüberschreitungen im so fest gezurrten Dasein die Möglichkeit des Anderssein, des Besserseins bieten. Andererseits ist nicht jeder Fortschritt positiv. Es kommt auf den Einzelfall an. Schon wieder.
Wie, Sie finden das einen Widerspruch, unseren Titel „ Nicht gerade phantastisch!“ und den Eingangssatz „Absolut phantastisch…“. Aber nein. Kaum ein Wort, kaum ein Begriff ist so vieldeutbar, wie „phantastisch“. Ist die Überschrift eindeutig negativ konnotiert, ist der Satzanfang schlicht wertneutral. Positiv wäre der Einsatz in: „Phantastisch, daß endlich einmal einer darüber schreibt. Fortsetzung folgt.