Hörbuch LUMPENROMAN von Roberto Bolaño aus der Hörverlag, Teil 2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Und da brauchen wir jetzt eine Sonderschicht mit MACISTE, der im richtigen Leben Giovanni Dellacroce heißt. Jetzt schlägt's 13. Hält uns Bolaño für so töricht, daß wir den Leim nicht riechen, auf den wir tappen sollen? Den Namen Maciste hatte Gabrielle D'Annunzio seinem dem Herkules ähnlichen karthagischen Helden in seinem Heldenepos gegeben.

 

Wir kennen in der Regel nur den geschichtlich/mythischen Haupthelden Karthagos, den Trojaner Aeneas als Gründer Italiens. Die Figur des MACISTE, dessen erster filmischer Auftritt 1914 in CABIRIA war, hat seither dutzendweise auf der Leinwand die Welt zu einer besseren gemacht, denn seine die Gerechtigkeit herstellende Funktion ist vergleichbar der des späteren amerikanischen Superman. Dieser Giovanni Dellacroce hat sich seinen Beinamen Maciste durch dessen Verkörperung in seinen Filmen verdient, denn das Genre der Gladiatorenfilme, zu denen die Rolle des Maciste gehört, waren ein Hauptrenner im Filmgeschäft vor dem Krieg und wurden in den 60er Jahren mit den sogenannten Sandalenfilmen fortgesetzt. Dann muß dieser Maciste ein berühmter Filmstar gewesen sein, wenn dies bis heute sein Spitzname ist. Und genau dieser Berühmtheitsbonus ist dem alten, verbrauchten Körper noch anzumerken, meint die beeindruckte Bianca.Und wir sind als Hörerin beeindruckt von den Altmännerphantasien eines Schriftstellers.

 

Der Autor spielt schon wieder. Aber mit uns, nicht mit seiner literarischen Figur Bianca. Denn dieser muß der Geburtsname des Helden, Giovanni Dellacroce, nichts sagen, uns schon. Hinter ihm verbirgt sich nämlich schlicht einer der merkwürdigsten Heiligen der Weltgeschichte, der Heilige Johannes vom Kreuz. Das ist ein Spanier aus dem 16. Jahrhundert, der in den Karmeliterorden eintrat und eine wichtige öffentliche Figur wurde. Er schrieb und dichtete viel und kommentierte noch dazu seine eigenen Gedichte unter großer Publikumsbeteiligung. Das dankte ihm die katholische Welt nicht, sie entmachtete ihn und befand ihn als Sänger der irdischen Liebe eher daneben. Aha, sagen wir uns dann, da ist mit Bolaño ein literarischer Enkel von Jorge Luis Borges zugange, dessen Weg der Bibliomanie und der Sucht, sich im Wissen der Bibliotheken so zu verlieren, daß man sich besser finden kann, er mitgeht.

 

Aber auch das führt in die Irre. Vielleicht waren wir mit dem Kino doch näher dran? Denn im LUMPENROMAN finden wir nicht nur versteckte Filmbezüge. Da kommen im Alltagstrott der Bianca den Fragen in Quizsendungen im Fernsehen große Bedeutung zu und sie beantwortet solche Fragen auch in den Zeitschriften. Aha, hier tobt sich im LUMPENROMAN ein Filmenthusiast aus, der sie im Jahr 2002 – da ist das Buch auf Spanisch erschienen – die Zeitschriftenfrage nach dem Mann, mit dem sie liiert sein möchte, mit BRAD PITT beantworten läßt. Verheiratet sein will sie mit EDWARD NORTON, ein Verhältnis haben mit ANTONIO BANDERAS und am liebsten solle ihr Vater ROBERT DE NIRO sein. Dann überrascht sie sich selbst, als sie auf die Frage, wen sie am besten fände und die weitere Frage, wer sie sein wolle, beide Male mit MARIA GRAZIA CUCINOTTA antwortet, denn diese kann sie eigentlich nicht leiden und findet sie als Schauspielerin grottenschlecht, während sie James Bond in seinem 19. Film als Zigarrenmädchen gefiel. Was ist jetzt? Sind wir auf dem Filmtrip oder nimmt der Roman jetzt eine psychoanalytische Wendung?

 

Ach, was. Das war ja noch vor ihrem Selbstfindungstrip mit Maciste, der nun ihr Leben bestimmt, wobei es ja erst einmal die Suche nach dem Tresor war, weshalb sie diese Liebschaft einging. Diese ist längst Selbstzweck einerseits und andererseits stärkt sie ihre Ich-Identität gegenüber dem Bruder und seinen zwei Gesellen und macht sie unabhängig. Und jetzt kann man schnell zu Ende kommen, so wie es Bianca auch macht. Man muß sich nur an den Anfang erinnern! Hätte man diesen Anfang die Erzählung hindurch stärker im Bewußtsein behalten, wüßte man das Ende eher. Denn der Anfang begann damit, daß sie Mutter ist und verheiratet dazu.

 

Das klingt doch nach einem gesetzten Dasein. Und nicht nach Kriminalität oder Hurendasein, was in ihrem Monolog ihre zweite Befürchtung war. Mit Maciste hat sie noch eine Abschlußnacht verbracht und seine Bezahlung von 150 Euro mit Absicht zurückgelassen, Sie geht nach Hause, sagt ihren ewigen Besuchern, dem Libyer und dem Bolognesen, daß jetzt Schluß sei, sie ins Kino gehe und beim Heimkommen die Wohnung leer, also ohne die beiden, vorfinden will. So kommt es. Ja, Frauen müssen nur deutliche Worte sprechen, dann halten sich auch solche Typen daran. Der Bruder ist sogar froh drum, daß nun beide weg sind.

 

Und so kamen wir im Grimmjahr und nach dem Anschauen des amerikanischen Streifens von HÄNSEL UND GRETEL darauf, daß uns Roberto Bolaño mit seiner surrealen Suada einfach ein Märchen erzählt, nachdem wir die Möglichkeit einer Traumerzählung ausschließen mußten und antikische Vorbilder wie Medea auch nicht weiter führten. Halt ein modernes Märchen, wo das ausgesetzte Geschwisterpaar nicht durch den Wald mäandert, sondern im Großstadtdschungel Schneisen schlägt. Diese schlägt Bianca allein, weil sich zu radikalen Taten Mädchen immer besser eignen als Jungens, das ist übrigens auch in der Filmversion so. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

 

Hat Spaß gemacht, das Hören vom LUMPENROMAN.

 

 

Info:

 

Roberto Bolaño, Lumpenroman, 2 CD, vollständige Lesung, gelesen von Winnie Böwe, Produktion Hessischer Rundfunk 2010, der Hörverlag, ISBN: 3867176229 vom 18.8.2010

Die Buchausgabe ist im Hanser Verlag erschienen.

 

www.hoerverlag.de