Serie: Deutscher Buchpreis 2011, Teil 13
von Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Über die Autorin schreibt die Jury in Kurzbiographie:
Marlene Streeruwitz, in Baden bei Wien geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte und begann als Regisseurin und Autorin von Theaterstücken und Hörspielen. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Droste-Preis und den Peter-Rosegger-Literaturpreis.
Zum Roman teilt sie mit: Leute werden verschleppt, verschwinden, werden eingesperrt oder gefoltert. Amy arbeitet für einen privaten Sicherheitsservice, sie kann die Korruption und Gewalt nur ahnen, die sich als Abgrund hinter den geheimen Operationen abzeichnet. Als sie beschließt auszusteigen, gerät sie endgültig in die Fänge einer undurchsichtigen, aber brutalen Organisation. Amys Verlorenheit korrespondiert mit dem Ringen um die Wahrnehmung der Realität. Was kann sie glauben? Wer ist sie selbst? Und vor allem: Was passierte an dem Tag, an den sie sich nicht erinnern kann? Ein Roman, der nach dem Ort des Individuums in einer zunehmend privatisierten Öffentlichkeit fragt.
Zur Auswahl unter die letzten Sechs lautet die Bewertung der Jury: Zeitgenössisch und sprach-körperlich nutzt dieser Roman die Möglichkeiten des Fiktionsspiels um Wahrnehmungsverschiebungen und Wirklichkeiten im Schlittern einer Figur, die im gewalttätigen Zwischenreich der Sicherheitsindustrie arbeitet. Reale und real gespielte Gewalt verschwimmen, die Grenzen – man könnte auch sagen: Möglichkeiten zu Berührung – zwishen Dingen, Menschen, Erinnerungen und ich werden fraglich. Stockungen der Sprache sind Stockungen der Gewißheiten. Es entsteht ein mit Menschenkenntnis und Beobachtungsschärfe für unsere Gegenwart entworfenes Psychogramm einer jungen Frau und der sie umgebenden Menschen-Landschaft, erzählt in perfekt rhythmischem ton mit Störgeräusch. Durch ungewisse Räume treiben Geld und Gewalt, schmeichelnd, gleisnerisch, zerstörerisch, aufgestörte Menschen vor sich her.
Wir meinen: ein unglaubliches Buch. Schwierig, zerrissen, genau, weiblich, männlich, kaputt, aber kraftvolle Gegenwehr. Auf der einen Seite fast kitschig, wie zu Beginn die Eislandschaft präsentiert wird. Aber das ist ein Kitsch von der Sorte, die nur auf Bildern so aussieht, wie die Sonnenuntergänge, die nur schön sind, wenn man sie in natura sieht und auf Fotos dann unecht wirken. „Bild“ ist die richtige Vokabel, denn das Buch ist von einer Art, daß man im Kopf die Bilder immer dazu sieht. Sehr anschaulich also, im Guten wie im Schlechten.
Um unsere Sicherheit muß man sich allerdings Gedanken machen, bei diesen Sicherheitsexperten und ihrer Ausbildung!! Wie verkommen sind unsere gesellschaftlichen Privatisierungsgelüste eigentlich, wenn einst als heilig angesehene Staatsbelange in private Hände dieser Sicherheitsindustrie gelegt werden. Das ist das eine. Das andere ist eine Geschichte der Welt, wie nahe Stockerau inzwischen über den Umweg von Böhmen an London liegt. Unglaublich. Die Sprache entspricht dem Zustand der Welt: zerrissen auch sie. Die Schreibweisen allerdings, da müssen wir uns mit der Autorin und dem Lektor doch noch einmal unterhalten: englische Ausdrücke alle klein geschrieben, aber dann doch wieder einige eingedeutschte in Großschreibung, aber andere genauso eingedeutschte in Kleinschreibung. Und das ‚handy‘? Das ist nun mal kein englisches Wort, sondern eine deutsche Erfindung.
Genauso wie „Sinn machen“. Das ist nicht nur ein falsches Deutsch, sondern auch ein autoritäres. Sicher nicht Absicht der Autorin, also weg damit, Herr oder Frau Lektor!
Ceterum censeo, daß es für jedes der Bücher eine Begründung für den Deutschen Buchpreis geben könnte. Jan Brandt legt einen Wälzer hin, der einen froh sein läßt, in dieser deutschen Provinz nicht aufgewachsen zu sein. Aber er zeigt auch, daß wir Städter keine Ahnung davon haben, wie vielfältig es dort zugeht. Eugen Ruge schreibt so klug und menschenfreundlich über Typen, die sich selbst erhaben fühlen. Anglelika Klüssendorf läßt uns teilhaben an den Schmerzen eines Kindes, dessen Revolte wir mittragen, aber auch verführt werden, die Position dieses Mädchens einzunehmen, wo sie gemein und böse handelt. Es gibt nirgends den reinen Helden, das unschuldige Wesen, nein, sie sind alle miteinander recht unsympathisch, dieser "ich" aus Buselmeiers "Wunsiedel" und auch die Amy Schreiber, die "Schmerzmacherin".
Warum wir Marlene Streeruwitz für den Buchpreis ausgewählt hätten, hat damit zu tun, daß kein anderes der ebenfals guten und interessanten Romane so dicht am Heute, so politisch, so verzweifelt ist und dies in Form und Inhalt uns als Salz unter die Haut streut.
Info: Weitere Informationen zum Deutschen Buchpreis 2011 und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de