Serie: Frankfurt liest ein Buch 2013, vom 15. bis 28. April: Siegfried Kracauer GINSTER (Suhrkamp), Teil 15

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ob denn GINSTER wirklich so zum Lachen sei, fragte Moderatorin Felicitas von Lovenberg die beiden Mitstreiter: den wissenschaftlichen Kracauerkenner Wolfgang Schopf und den Suhrkamp-Autor Andreas Maier in der abendlichen Runde am 22. April bei Hugendubel, was beide bejahten und letzteren zu den „Pointen wie Genickschüssen“ inspirierte.

 

Der Moderatorin jedenfalls war bei Lesen von GINSTER nicht zum Lachen zumute und registrierte erstaunt, daß sich Maier oft vor Lachen ausgeschüttet habe. Wir übrigens auch. Maier diagnostizierte zutreffend, daß das Lachen nicht aus den inhaltlichen Konstellationen erwachse, sondern aus der sprachlichen Form, in der Kracauer völlig unerwartet das eine an das andere reihe, was die Situationskomik ergäbe, von der schon als erster der GINSTER-Enthusiast Bloch sprach, als er den Protagonisten Ginster mit Chaplin verglich, was sich in den Rezensionen fortschrieb - wobei auch von Buster Keaton die Rede war - und auch von Joseph Roth formuliert wurde: „Ginster im Krieg: das ist Chaplin im Warenhaus“, abgedruckt auf der hinteren Umschlagseite des Romans in der Fassung von 2013.

 

Wie das mit den verschiedenen Fassungen sei, war auch eine Frage, die dank Schopf geklärt werden konnte. Wenigstes zum Teil. Zuerst einmal gab es 1928 nur den Titel GINSTER.VON IHM SELBST ERZÄHLT ohne den Zusatz Roman. Dazu Maier: „Roman muß heute draufstehen, Novelle wäre Rattengift“. Das ist deshalb interessant, weil man selber beim Lesen den Begriff ROMAN auch nicht in den Mund nehmen täte, weil es nicht die Handlungsfolge ist, die dieses Buch trägt. Bei der ersten Neuauflage durch Siegfried Unseld 1963 fehlte das letzte Kapitel XI, wo Ginster nach dem Krieg in Marseille auf Frau von C. trifft, die er zu Beginn des Buches kennenlernte, in der Ausgabe von 2013 die Seiten 326 bis 342. Die Streichung habe keine inhaltlichen Gründe, sondern sei erfolgt, weil GINSTER in der Bibliothek Suhrkamp veröffentlicht wurde, deren Bände knapp gehalten waren. Ein wichtiger Hinweis von Wolfgang Schopf, der sich leider in der Editorischen Notiz 2013 nicht findet.

 

Schade, befand Andreas Maier, schade, daß dieser Marseilleschluß nicht weiterhin weggefallen sei. Darüber konnte er sich so was von aufregen, wie überhaupt das Angenehme an diesem Abend war, daß man von zwei Männern ganz unterschiedliche Aussagen zu GINSTER erhielt, die in einer Aussage zusammentrafen: welch unglaublich gutes Buch dieser Roman sei. Autor Maier sprach voller Hochachtung dem Kollegen eine „phantastische Sprache“ zu – stimmt! - und befand den Text sowohl stilistisch wie sprachlich als „sehr gut“, wobei ihm das Wichtigste die Verrätselung sei, weil sich beim Lesen eben nicht die textliche Fortschreibung im eigenen Kopf ergäbe, immer ein Zeichen für einen schlechten Text, der nerve, sondern Kracauer völlig unerwartete Sätze aneinanderreihe, die genau zu dem intellektuellen Vergnügen führe, das ihm die Lektüre von Ginster bereitet habe, ein Buch, das er wie von Lovenberg und sicher die meisten Zuhörer zwar dem Namen nach kannte, aber erst vor 10 Tagen gelesen habe.

 

Wolfgang Schopf nun konnte mehrmals aus den Nähkästchen plaudern, der er kennt wie kein anderer auch die Hintergründe der Freund-Feind-Beziehungen der Frankfurter Intellektuellen dieser Zeit, die er für die Herausgabe des Briefwechsel Adorno-Kracauer benötigte und die auch einfloß in diese so kompetente wie knappe und dennoch mit Bildern angereicherte GINSTER-Begleitschrift „ bin ich in Frankfurt der Flaneur geblieben“, die den Untertitel trägt „Siegfried Kracauer und seine Heimatstadt“, die auch Motto des Abends bei Hugendubel war. Worin sich der Held Ginster von Kracauer unterscheide und beide nur die Frankfurter Szenerie gemeinsam hätten, wurde von Maier und Schopf durch Belege und Lesungen konkretisiert.

 

Daß nichts, aber auch gar nichts an diesem Roman „verlogen“ sei, wie Lorenz Jäger mündlich und FAZ-schriftlich Kracauer unterstellte, der im Ersten Weltkrieg ein Kriegsbefürworter gewesen sei und sich jetzt mit dem antikriegsaffinen Ginster eine weiße Weste wüsche, darin waren sich beide Gäste einig. Der Roman erscheint 10 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. In dieser Zeit habe sich bei ganz vielen die Ernüchterung der Kriegsmobilisierung von 1914 zu einem Umdenken gewandelt. Oft seien aus den Kriegsbefürwortern sogar Pazifisten geworden, fügte von Lovenberg hinzu. Für ihre Gesprächspartner blieb die Indifferenz, die Ginster zur Welt, zum Krieg, zur Familie, zu seinem eigenen Leben eingenommen habe, das Verstörende und das Faszinierende an diesem Werk, das – auch darin waren sich alle einig – sprachlich eine Wucht sei.

 

 

 

INFO:

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Suhrkamp Verlag 2013

 

Siegfried Kracauer, GINSTER, Hörbuch, 4 CDs, Hörbuch Hamburg 2013

 

Wolfgang Schopf, BIN ICH IN FRANKFURT DER FLANEUR GEBLIEBEN...SIEGFRIED KRACAUER UND SEINE HEIMATSTADT, Suhrkamp Verlag 2013

 

Wolfgang Schopf (Hrsg.), DER RISS DER WELT GEHT AUCH DURCH MICH, Theodor W.Adorno – Siegfried Kracauer Briefwechsel 1923-1966, Suhrkamp Verlag 2008

 

Siegfried Kracauer, Werke in neun Bänden, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke, ab 2004 ff, Suhrkamp Verlag

 

Foto: Lothar Ruske.  Von links Andreas Maier, Felicitas von Lovenberg, Wolfgang Schopf

 

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