Abschlussabend des Leselandes: Norbert Gstrein „Als ich jung war“
Hanswerner Kruse
Fulda (Weltexpresso) - „Er leckte sich ausgiebig die Unterlippe und vergaß, seine nasse Zunge wieder einzuziehen, während er Kira unverhohlen anstarrte.“ In seinem neuen Roman erzählt Norbert Gstrein von Küssen sowie naturhaften und menschlichen Abgründen: Der fünfzehnjährige Franz lebt im hintersten Tirol und muss bereits als kleiner Junge nicht nur im Hotel der Eltern aushelfen, sondern sich bei den zahlreichen Hochzeiten im Schloss, wie das Quartier genannt wird, auch als Fotograf bewähren.
Für die Lichtbilder wählt der junge Fotograf immer die dieselben Orte, eine Wiese am Waldrand, den Klosterbrunnen, an denen sich die Paare wie von selbst auf die immer gleiche Art inszenieren: „Am Ende waren die Motive schnell durchdekliniert.“ Zum Schluss müssen die Brautleute an einen Abgrund treten, der ein hervorragendes Panoramabild als Hintergrund ermöglicht. Jedes Mal sind es die erschaudernden Frauen, die meinen: „Jetzt könntest du mich noch loswerden“, während die Männer sie heftig umarmen, als hätten sie gerade das Gleiche gedacht.
Eines Tages streitet eine besondere, recht wilde Braut heftig mit ihrem angehenden Ehemann: „Wir können es auch überhaupt sein lassen, wenn du willst. Deine Mutter, deine Mutter, deine Mutter...“ Später kommt sie durch einen Sturz in den Abgrund zu Tode. Der Ich-Erzähler, der bis dahin nur einmal ein Mädchen küsste, geht daraufhin für mehr als ein Jahrzehnt nach Amerika und kehrt zu Beginn des Buches nach Tirol zurück.
Zu seinem Erstaunen finden wieder Hochzeiten im „Schlösschen“ statt. Die eingangs erwähnte Kira erinnert ihn an die einst hier zu Tode gekommene Braut. Doch an ihrem Hochzeitsabend „schien Kira mit jedem der einzelnen Männer tanzen zu wollen und suchte dabei immer den Blick ihres Mannes. War sie mit den anderen ein einziger Wirbelwind, Arme und Beine in ständiger Bewegung, so kam sie jedes Mal, wenn sie ihn wieder ins Getümmel zog, augenblicklich zum gleichen Stillstand und küsste ihn.“
Der Autor trägt einige Passagen des Buches vor, welche die Ereignisse in Tirol und Amerika lediglich andeuten, so bleiben viele Geheimnisse für uns potentielle Leser bewahrt. Deshalb kann man recht zufrieden Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zitieren: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen". Schon beim Vorlesen wird durch Rückblenden und Erinnerungen die Handlung deutlich. Aber „Als ich jung war“ ist trotz des undurchsichtigen Todesfalls und der Spannung, die der Hamburger Autor aufbaut, kein Krimi. Sondern ein Entwicklungsroman, der das Erwachsenwerden des Tiroler Jungen, seine eigenartigen Erlebnisse in den USA und exemplarisch menschliche Abgründe schildert.
Als Beispiel für diese Abgründe, quasi als Stimmungsbild, liest Gstrein die Passage über den US-amerikanischen Professor vor, der sich eines Tages das Leben nimmt. Er war mit dem Protagonisten befreundet und hinterlässt ihm ein Paket voller dramatischer Dokumente, aus seiner eineinhalbjährigen Beziehung mit einer Unbekannten.
Der Autor ist ein großer Erzähler, der die Ereignisse lebendig, mit klarer und gelegentlich humorvoller Sprache beschreibt. Seine Schilderungen der Orte und Menschen sind sehr präzise, dabei durchaus sprunghaft und erinnernd; kleine Rückblenden gibt es sogar in manchen Absätzen und Dialogen. Trotz diverser Zeitsprünge und Unklarheiten wirkt der Roman bereits in der Lesung interessant. Er ist gut lesbar, auch durch die erfreuliche Abwesenheit philosophischer Ergüsse oder existentieller Mutmaßungen.
Foto:
Hanswerner Kruse
Leseprobe:
„...Was wusste dieser Schwachkopf vom Küssen? Zehn, elf, zwölf Jahre war ich alt gewesen, als ich im Internat auf Befehl der älteren Schüler hatte antreten und mir von ihnen die Zunge in den Hals stecken lassen müssen, beinahe tagtäglich, Woche für Woche, all die Monate, mehr als zwei Jahre lang, ausgenommen vielleicht montags, wenn es mir gelungen war, mit den Süßigkeiten, die ich aus dem Wochenende von zu Hause mitgebracht hatte, wenigstens für einen Tag freizukaufen...“
Norbert Gstrein, Als ich jung war, Verlag Carl Hanser
In Deutschland wird seltsamerweise der Österreichische Buchpreis kaum wahrgenommen, den es seit Jahren neben dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis gibt. Die Konditionen und auch das Auswahlsystem sind unterschiedlich. In Österreich werden im ersten Durchgang zehn Bücher von Autoren gewählt, ins Finale kommen dann fünf Bücher. So weit ist es noch nicht. Es gilt die Zehnerliste und auf dieser ist Norbert Gstrein aufgelistet.
Und noch eine Auszeichnung: Das neue Buch des in Hamburg lebenden Autors ist für den September zum Ö1 Buch des Monats im September gewählt worden.