Neue Gedichte von Rolf Schilling

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es zählt zu den Absurditäten der Literaturgeschichte, daß eines der eigenwilligsten dichterischen Werke der deutschsprachigen Literatur im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts eine – wenn man es denn so bezeichnen will – erste offizielle Würdigung ausgerechnet von Seiten der Agenten derselben Staatsmacht erfuhr, die seinem Schöpfer zunächst jede Möglichkeit zur Veröffentlichung verwehrte.

 

In den Akten des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit über den 1950 in Nordhausen im Harz geborenen Dichter Rolf Schilling findet sich die Feststellung, Schilling sei eine „Einzelerscheinung in der gegenwärtigen Literaturszene“, dessen Werke ein „überdurchschnittlich hohes Können“ offenbarten und dessen „poetische Orientierung […] in unserer Zeit geradezu verblüffend“ wirke. Er besitze „ein großes Sprachtalent sowie eine hohe klassische und philosophische Bildung. Sein Wortschatz ist außerordentlich umfangreich.“

 

Schilling durchschaute schon sehr früh die Kleingeistigkeit und Unfreiheit des SED-Staates, dem er sich schließlich 1977 durch Aufgabe seines Berufs – er war als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule in Ilmenau tätig gewesen – und Rückzug ins Privatleben entzog. Wissend, daß ihm im Reich des realexistierenden Sozialismus keine Veröffentlichungsmöglichkeit offenstünde, widmete er sich ausschließlich seinem Werk – in der Überzeugung, daß die Zeit für ihn arbeite. So entstanden zwei Dramen, „Wir spielen Macbeth“ und „Siegfrieds Tod“, in denen er auf höchst eigentümliche Weise Traditionen vom Theater der Romantik her über den Surrealismus und das Epische Theater Bertolt Brechts bis hin zum Theater des Absurden aufnahm und fortführte, ferner Essays zur Weltliteratur sowie zu Fragen der Mythologie und zur Symbolik, vor allem jedoch ein umfangreiches lyrisches Werk, das in der Tat in der Literatur unserer Zeit ohne Beispiel dasteht.

 

Schilling war und ist es darum zu tun, den in der industrialisierten Moderne – unabhängig vom vorherrschenden politischen System – verschütteten Bezug des Menschen zur Natur und zum Göttlichen unter konsequenter Bezugnahme auf den Mythos und dessen Bilderwelt, insbesondere auf den germanischen und seine durch die Nationalsozialisten vielfach mißbrauchte Symbolik, wieder freizulegen. Er bedient sich dazu der tradierten Formensprache der Klassik, der Romantik und des Symbolismus – freie Rhythmen, Formzertrümmerung und Alltagssprache sind seine Sache nicht.

 

In seinem dichterischen Schaffen, das auch eine große Anzahl von Nachdichtungen aus dem Französischen (Baudelaire), Russischen (Blok) und vor allem Englischen (insbesondere Shelley, Keats und Swinburne) umfaßt, bezieht er sich neben dem germanischen Mythos und der deutschsprachigen Sage und Historie vor allem auf die klassische Antike sowie mit der Zeit auch auf Elemente aus dem orientalischen Kulturkreis. Einflüsse durch und Bezugnahmen auf die jüdisch-christliche Überlieferung treten bei ihm eher selten, wohl aber an exponierter Stelle in Erscheinung.

 

In ihren letzten zwölf Jahren verhielt sich die DDR solch einer entschiedenen Verweigerungshaltung wie der Rolf Schillings gegenüber ungleich toleranter, als sie es noch wenige Jahre früher getan hätte. In der Tat: Von einem selbsternannten Erben Wagners und Nietzsches erwartete man kaum eine konkrete politische Bedrohung, wie man diese von den Apologeten eines besseren Sozialismus befürchtete. Gleichwohl reichte Schillings „oppositionelle“ Haltung aus, ihn überwachen zu lassen und das von ihm ins Leben gerufene „Holde Reich“, einen losen Zusammenschluß einiger Freunde, denen er seine Gedichte – vorwiegend auf gemeinsamen Wanderungen – vortrug, zu unterwandern.

 

Freilich merkte man bald, „daß seine Materialien nicht dazu angetan sind, den Interessen der DDR zu schaden. Sie sind so unverständlich, geschwollen und hochtrabend erarbeitet, daß er nur unter wenigen Personen Zuhörer findet“ (Dieses und die vorangegangenen Zitate aus Schillings „Stasiakte“ sind der Dissertationsschrift des Jenaer Historikers Dr. Dietmar Remy entnommen: Dietmar Remy: Opposition und Verweigerung in Nordthüringen (1976–1989). Duderstadt: Mecke 1999 (= Schriftenreihe der Bildungsstätte am Grenzlandmuseum Eichsfeld, Bd. 1), S. 300, 306.). So ergab sich unter anderem die ironische Situation, daß gerade das Spitzelsystem des SED-Staates Schilling eine reibungslose und sichere Kommunikation mit von ihm verehrten, in der DDR indes verpönten westdeutschen Autoren wie vor allem Ernst Jünger ermöglichte.

 

Jünger charakterisierte die Gedichte Schillings in einem Tagebucheintrag:

Die Verse erinnern mich an die „Edda“, die Droste, an George und dann wieder an Baudelaire, jedenfalls an einen guten Humus; ich las sie mit dem Genuß und der Trauer eines Rückwanderers in die klassische Welt. Sie halten sich im Interregnum: die alten Götter sind entschwunden; zwischen Gräbern und Ruinen sind nur noch die Schatten zu sehen. „Staub auf den Pranken uralter Sphinx, drauf die Asche von Sodom einst fiel.““

(Ernst Jünger: Siebzig verweht. Bd. II. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 578 (Tagebucheintrag vom 9. Februar 1980))

 

In einem späteren Brief an Schilling modifizierte und präzisierte Jünger diese seine Deutung noch: „Ich lese Ihre Verse mit unvermindertem Genuß und würde Ihre Autorschaft in jeder Strophe erkennen, die mir auf den Tisch flöge. Sie haben, was Baudelaire vom Dichter verlangt: Ihr Webmuster.Daher finde ich keine Vergleiche – nicht einmal den naheliegenden mit Stefan George. Sie sind nicht elitär, sondern fundamental, und eher isländisch als meridional. Man müßte schon auf die Skalden zurückgreifen. Das ist nicht modern und nicht nur heute, sondern schon seit Ossian fast verrufen, trotzdem haben Sie Ihr Zeichen in die Esche geritzt und lassen sich hoffentlich nicht beirren dabei. Leider fehlt mir die Zeit für einen ausführlichen Brief. Ich lese Ihre Verse bald wie die eines Sängers, bald wie die eines Lyrikers – der Unterschied liegt nicht in der Berufung, doch in der Art der Wortführung. Bei Ihnen greift beides ineinander über – – –. „Nur der Traum schenkt solche Helle.““

(Ernst Jünger: Siebzig verweht. Bd. V, 1997, S. 31 / 32 (Brief Jüngers an Schilling vom 29. Juni 1991))

 

War es zunächst notwendig, daß Jünger seine ersten Buchgeschenke für Schilling an Stephan Hermlin sandte, der sie dann an Schilling weiterverschickte, so war es diesem doch bald möglich, von den Sicherheitsbehörden unbehelligt seine Westkontakte auszubauen. Karl Corino ermöglichte es Schilling, einige privat aufgenommene Vorlesungen seiner Gedichte und Essays im Hessischen Rundfunk senden zu lassen, und Schillings dichterischer Schüler Uwe Lammla, der die DDR Anfang der 1980er Jahre verlassen hatte, begann in seinem eigens zur Förderung und Verbreitung der Werke Rolf Schillings gegründeten Münchener Kleinverlag „Edition Arnshaugk“, erste Buchveröffentlichungen „des Meisters“ herauszubringen, die man im Grunde auch in der DDR auf einigen Umwegen hätte beziehen können.

 

Mauerfall und Wende bedeuteten für Schilling den bisherigen Höhepunkt an öffentlicher Wahrnehmung, die ihm als Schriftsteller zuteil wurde: Die „Edition Arnshaugk“ ehrte ihn mit einer mehrbändigen Werkausgabe, und Schilling wurde mehrfach zu Interviews und Lesungen eingeladen. Uwe Wolff würdigte Schilling im Feuilleton der "Neuen Zürcher Zeitung" als „Dichter der inneren Emigration“ und Vertreter jener „Schubladenliteratur“, die zu DDR-Zeiten keinerlei Wirkungsmöglichkeiten gehabt hatte und auf die man nun umso größere Hoffnungen setzte.

 

Doch Schilling, dessen Autorschaft in keine Schublade paßte, ließ sich mit dem Schubladendenken des gesamtdeutschen Kulturbetriebs auf Dauer nicht in Einklang bringen und halten. Er wandte sich neben Wagner, Nietzsche und Jünger auch anderen „umstrittenen“ Gestalten wie Leni Riefenstahl und Arno Breker zu – die Illustrationen zu Schillings Gedichtband "Tage der Götter" (1991) stellen das letzte Werk des Bildhauers dar –, und dies nicht etwa ironisch relativierend oder zumindest im Sinne kalkulierter Tabubrüche eines Hofnarren der Literaturszene, sondern, um bewußt an künstlerische Traditionen anzuknüpfen, deren humanen Gehalt es erneut herauszuarbeiten galt. So wurde der Dichter vom Feuilleton eine Zeitlang als Kuriosität bestaunt, dann aber, da seine Art der Anverwandlung des Mythos unvereinbar mit den Geboten der politischen Korrektheit schien, rasch wieder fallengelassen – was ihn, den „Solitär“, indes nicht weiter kümmerte, geschweige denn entmutigte.

 

Schillings heutige Isolation ist zum Teil der Tatsache geschuldet, daß er in den vergangenen zwei Jahrzehnten, wenn überhaupt, vorwiegend in Publikationsorganen der „Neuen Rechten“ Erwähnung und Gehör fand – was bei genauerer Überlegung weder etwas über die Qualität seines Werks noch zwangsläufig etwas über die Qualität einer solchen Rezeption aussagt: Der Geist hält nicht inne vor Parteigrenzen; desgleichen der Ungeist. Hauptsächlich dürfte sie jedoch darauf zurückzuführen sein, daß das Projekt einer Schilling-Gesamtausgabe, worin neben seinem dichterischen und essayistischen Schaffen auch sein umfangreiches Tagebuchwerk zur Veröffentlichung gelangte, dessen zeit- und geistesgeschichtliche Bedeutung gleichfalls noch kaum erfaßt ist, infolge eines Zerwürfnisses zwischen dem Autor und seinem einstigen Adepten und Verleger Uwe Lammla Ende der 1990er Jahre vollständig zum Erliegen kam.

 

Mit „Lingaraja“ (Rolf Schilling: Lingaraja. Treuenbrietzen: TELESMA-Verlag 2012) liegt nun nach rund anderthalb Jahrzehnten wieder ein eigenständiger Gedichtband vor, erschienen im Telesma-Verlag des Alfred-Schuler-Herausgebers Baal Müller. Das Buch ist benannt nach dem gleichnamigen Hindu-Tempel in Bhubaneswar, einem Pilgerort im indischen Orissa, der dem Harihara, der Verkörperung einer Verbindung von Aspekten Vishnus und Shivas, geweiht ist. Es ist keine chronologische Fortführung der früheren Gedichtreihe der Gesamtausgabe, sondern ein Auswahlband verschiedener Dichtungen der zurückliegenden fünfzehn Jahre und kann als idealer Einstieg in das Werk Rolf Schillings dienen. „Die Welt ist schon Dichtung vor allem Wort. Aber die Welt ist gezeichnet. Sie trägt die Stigmen von Trauer, Schmerz, Tod. Sie bedarf der Erlösung durch das Wort“, so drückte es Schilling einst in seinem aphoristisch gestalteten Essay „Stier, der sich opfert – Aion, der spielt“ aus. „Die Welt ist Dichtung, aber nur dem Dichter wird sie zum Gedicht.“

(Rolf Schilling: Schwarzer Apollon. Essays zur Symbolik [1985–1988]. München: Edition Arnshaugk 1990 (=Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. II/3), S. 79.)

 

Das lyrische Ich tritt im Laufe der Jahre immer seltener direkt in Schillings Gedichten in Erscheinung, es verbirgt sich zumeist in Varianten des lyrischen Dus – teils als offenkundige Zwiesprache mit sich selbst wie in Hölderlins „Lebenslauf“, Nietzsches „Vereinsamt“ oder Gottfried Benns „Einsamer nie“, teils als einvernehmliche Ermunterung einer imaginären, durch gleichgeartete Erfahrungen des Göttlichen in der Natur geeinten Gemeinschaft. Dialogischen Charakters war sein Werk von je – als Ansprache an den Leser wie als Anrede des besungenen Gegenstandes.

 

Mehr als in den früheren Bänden scheint in „Lingaraja“ neben dem „eigentlichen“, dem „mythologischen“ Schilling (stellvertretend sei neben den beiden Titelgedichten auf „Traum von Angkor“, „Hörner im Herbst“ und „Speerholders Weh“ verwiesen) sowie dessen spezifischer Ausprägung der Naturlyrik („Tiger-Träume“, „Zinnien“, „Sphingiden“) auch eine überraschend private Seite des Dichters auf, etwa in den „Schach-Sonetten“, den „Katzen-Rondellen“ oder gar der „Zwölften Walpurgisnacht“, der balladesken Gestaltung einer Höhlenwanderung – Gedichte, die sich als lyrische Scherzandi zum symphonischen Hauptstrom interpretieren lassen und als solche nicht minder integrale Bestandteile des Ganzen sind wie der seinem Verleger Baal Müller gewidmete Sonett-Zyklus „Eleatisch“ oder „Aus den Sprüchen des Yazdi“.

 

Ein noch immer weitgehend unerschlossenes dichterisches Gesamtwerk liegt hier in repräsentativer Auswahl vor, dessen Intentionen zu begreifen jedem die Möglichkeit sich darbietet, der die Bereitschaft zeigt, die Bahn zu beschreiben, „die der Gott dir mit Feuer umsäumt.“ (Rolf Schilling: Lingaraja. Treuenbrietzen: TELESMA-Verlag 2012, S. 245)

 

Rolf Schilling: Lingaraja

Treuenbrietzen

TELESMA-Verlag 2012

ISBN 978-3-941094-06-2

EUR 19.80 (D), EUR 20.40 (A), 320 Seiten

 

Anmerkung der Redaktion:

Diese Rezension erschien ursprünglich in der Septemberausgabe des Jahres 2012 der „Wiener Sprachblätter“ (Jahrgang 62, Heft 3, September 2012). Für die Wiederveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet.