Ernst Heinrich Bottenberg lotet Möglichkeiten der Ich-Behauptung in technifizierter Natur aus
Alexander Martin Pfleger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nach "entfernungen der erde. mythen-erwartung", "Tau-Verlust. Versuchsanordnungen: Naturlyrik", "Atem-Schaltungen. Naturlyrik: In-Zwischen" und "TAL:Unschärferelationen. Naturlyrik" liegt mit "ich: Textviren des Ichs. Lyrik: anthropologisch" der fünfte Gedichtband des Sozialpsychologen und Psychoanalytikers Ernst Heinrich Bottenberg vor. Wie in den vorangegangenen Bänden steht auch hier das Verhältnis von Mensch und Natur im Mittelpunkt des Interesses.
Mensch und Natur – beide Begriffe wirken nur noch wie Erinnerungen, wie reine Imaginationen eines vielleicht nie dagewesenen idealen Urzustandes, etwa im Sinne der Blochschen Heimat, die noch keiner von uns geschaut hat, doch nach der wir uns alle gleichwohl zurücksehnen. In der Gegenwart der Bottenbergschen Lyrik scheint man von einer Erfüllung dieser Utopie weit entfernt. Ursprünglichkeit ist nirgends zu finden. Der Mensch hat sich durch seine sinnentleert rationalistische Perspektive von der Natur distanziert, sie ist ihm nur noch ein, wenn auch hochkomplex strukturierter, Apparat, dessen Funktionen sich ebenso beherrschen lassen wie die eines PCs oder eines altertümlichen Waschbretts. Aufgrund seiner Beherrschbarkeit vermag dieser Apparat dem Menschen nichts mehr zu geben und kein Refugium der Erneuerung mehr zu sein. Bestenfalls dient er noch als Kulisse in einer Inszenierung von Einfachheit und Geborgenheit. Der Mensch wiederum hat sich selbst ebenfalls zu einer vorwiegend maschinellen Kreatur entwickelt, dem weder die Erfahrung der Natur, noch eine Entfaltung seiner selbst im Sinne tradierter Bildungsideale mehr möglich sein dürfte. An eine Berührung oder gar Durchdringung und Befruchtung beider Sphären läßt sich noch weniger denken.
Und doch – stößt man auch überall nur auf Schwundmale des Ich und undeutbare Erdgesten, empfindet sich der Mensch nur noch als Implantat, das als mythologischer Wiedergänger durch ein Gespinst von Duftpixeln irrt: Die sixtinische Berührung bleibt, und selbst im Zustand der äußersten Fremdheit, in die der Mensch geriet, nachdem er die verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis kostete, ist er sich, im faustischen Sinne, in seinem dunklen Drange dennoch des rechten Weges stets wohl bewußt und findet zu seinem Urquell zurück. Vorahnungen dieser Heimkehr in die verlorengeglaubte Einheit, Überwindungsmöglichkeiten des bloß maschinellen Seins von Mensch und Natur können in jedem Augenblick in der Kunst aufgezeigt werden.
Mag sie auch auf die Welt als Automat wie ein Virus wirken, so stiftet die künstlerische Offenbarung als Virus doch das nötige Chaos, das sich immer wieder als Ursprung allen Seins er- sowie den Menschen als Menschen und die Natur als Natur ausweist. Sinnfällig wird diese Denkfigur im vorliegenden Band im Bild der göttlichen Zwillinge Hunahpu und Ixbalanque aus der Mythologie der Maya, die durch ihr Lärmen beim Ballspiel Hun Came und Vucub Came, die Herren Xibalbas, der Unterwelt, erzürnten und später, nachdem sie zu ihnen hinabgestiegen waren, stürzten, um wieder in eine erlöste Welt empor zu steigen, der sie nun fortan als Sonne und Mond leuchteten.
Bottenbergs Gedichte folgen keinen traditionellen Schemata; sie bieten sich dem Leser indes in einer fast schon wieder wohltuend altmodisch experimentell zu nennenden Form dar. Groß- und Kleinschreibung wechseln einander ebenso häufig ab wie Normal- oder Fettdruck der einzelnen Wörter, die untereinander häufig durch Punkte oder übergroße Leerstellen getrennt oder mittels Gedankenstrichen eng miteinander verbunden sind. Die syntaktische Struktur bleibt hierbei meist überschaubar, nur in wenigen Momenten ist sie lediglich erahnbar.
Diese Gedichte mögen auf den ersten Blick im herkömmlichen Sinne als schwierig oder unzugänglich erscheinen, doch wer sich ihnen öffnet, kann auch als vielleicht stärker der Tradition zugeneigter Leser an ihrer Bilderfülle und ihrem Gedankenreichtum teilhaben und eine erregende Exkursion durch eine der eigenwilligsten lyrischen Landschaften unserer Zeit unternehmen.
E. H. Bottenberg: ich: Textviren des Ichs. Lyrik: anthropologisch
S. Roderer Verlag, Regensburg 2007
ISBN 3897835738
ISBN-13 9783897835733
EUR 9.80, 62 Seiten
Weiterführende Literatur:
Wendy Anne Kopisch: Naturlyrik im Zeichen der ökologischen Krise: Begrifflichkeiten – Rezeption – Kontexte. Kassel University Press. Kassel 2012
ISBN-10: 3862192288
ISBN-13: 978-3862192281
EUR 39,00, 334 Seiten
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten von http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=11117 übernommen. Für die Neuveröffentlichung wurde sie geringfügig bearbeitet und ergänzt.