hettcheDeutscher Buchpreis 2020, Sechserliste, Teil 18

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Augsburger Puppenkiste kenne ich nicht aus Augsburg, sondern vom Hessischen Rundfunk, wo sie von Hilde Nocker angekündigt wurde; unglaublich, daß mir aus dem Stand der Name der Fernsehansagerin der 60er Jahre einfällt, wo mir ansonsten dauernd Namen entfallen. Und unglaublich auch, daß es – weit vor Erscheinen des Buches von Thomas Hettche HERZFADEN im September - erneut der Hessische Rundfunk war, der schon zu Beginn der Coronazeiten den Klassiker AUGSBURGER PUPPENKISTE – aus der Mottenkiste der Fernsehanstalt holte.

HR-Intendant Manfred Krupp stellte fest: „Für Kinder, die nach Schließung von Kitas und Schulen nun zu Hause bleiben müssen, stellt man das Angebot in der Mediathek um, wo man nun mehr spezielle Inhalte für Kinder bereithält. Das reicht von einem Klassiker wie der "Augsburger Puppenkiste" bis zu Kika-Reihe "Schau in meine Welt". Schüler, Eltern und Lehrer bietet man unter hr.de/wissen-plus Materialien zum Selbstlernen an. Der Hessische Rundfunk und das Netzwerk Rundfunk und Schule, eine Kooperation zwischen dem HR und Hessischem Kultusministerium, stellen hierfür zu unterschiedlichen Themen unter anderem Arbeitsblätter und für den Unterricht aufbereitete HR-Sendungen zur Verfügung.“

Ein Klassiker also, die Augsburger Puppenkiste, eine Bildungseinrichtung, ein klassisches Marionettentheater, bewegliche Figuren an Fäden also, denen Thomas Hettche nun einen familiären Hintergrund gibt, der sicher für die meisten Fernsehzuschauer ganz neu ist, auch wenn das Alltag in Augsburg ist, ist es doch Sonntag im Bundesgebiet.

Wie sich das Fernsehen didaktische Regeln gibt, befolgt Hettche seine eigenen, die er aufstellte, um den Leser besser durchblicken zu lassen. Das fängt ganz harmlos mit den Buchstaben in roter Schrift an. Aha, Rot ist die Farbe der Phantasie und mit der aus einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste kommenden Zwölfjährigen, der Hettche an anderer Stelle 13 Jahre verpaßt, beginnt die Geschichte, wie jede Geschichte hinter der Geschichte durch eine Holztür oder die Rückseite eines Schranks. Hier ist es eine Holztüre, die das Mädchen schnell hinter sich schließt, denn sie ist angefressen, was soll sie mit dem Kinderzeugs, was sie gerade sah: die Marionetten Aufführung im Augsburger Stadttheater.

Doch dann passiert Wundersames, solches eben, wie es immer passiert, wenn man durch Türen in andere Welten gelangt, ob man Alice oder anders heißt. Sie entdeckt hohe hölzerne Gestelle, an denen etwas hängt. Doch das ist, als sie sich traut, den Boden näher zu betrachten, wozu sie Li Si auffordert. Denn als sie deren Stimme hört:

“Ach wie herrlich, ach wie schön

Ganz allein am Strand zu gehen!

Ich bin die Prinzessin Li Si

Weil ich nicht will, mich finden sie nie.“

Na, das kommt dem Mädchen gerade recht. Sie erkennt die Prinzessin, die sie in Kindertagen liebte und sagt ihr lachend: „Mich auch nicht“, das Finden nämlich. Und dann trifft sie auf Hattü und schon sind wir schnell in der blauen Schrift, die die Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt, wo wir doch sonst nur die Geschichten von der Augsburger Puppenkiste kennen: Urmel, Jim Knopf und sogar König Kalle Wirsch. Hattü nämlich ist die Figur, die alles zusammenhält, ordentlich Hannelore Oehmichen, Tochter des Gründers Walter Oehmichen, der im Februar 1948 das Marionettentheater, die Augsburger Puppenkiste eröffnete. Das war mir bekannt, nicht aber, daß er schon im Krieg ein Marionettentheater gegründet hatte, den Puppenschrein, der verbrannte.

Und auch Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ war mir nicht gegenwärtig, in dem er beschreibt, wie die Marionetten funktionieren, das, was sie im Innersten zusammenhält, was also den Schwerpunkt bildet, der die Bewegungen der Glieder in Gang hält, was für den Betrachter schwerelos wirkt. Daß ich das kenne, hat mit meiner Kindheit zu tun, wo selbstgeschriebene Theaterstücke mit Kasperlefiguren, aber eben auch mit Marionetten aufgeführt wurden, die ich – wie auch die Bühnenbilder – noch immer im Keller – nicht auf dem Dachboden – verwahrt habe. Wer weiß,was die sich alles erzählen.

Doch, was Marionetten ideologisch bedeuten, darum geht es überhaupt nicht, sondern wir lesen eine ordentliche Nachkriegsgeschichte Westdeutschlands. Bleiben wir also bei Hattü, die Gewährsfrau für Autor wie Leser und sozusagen der HERZFADEN der Augsburger Puppenkiste selbst. Der Titel wird nämlich Hattüs Vater zugeschrieben, der als Herzfaden das bezeichnet, was von den Marionetten und ihrem Spiel direkt in die Herzen der Zuschauer dringt. Er selbst hat sein Theater durchaus im Sinne der Reedukation der Alliierten gesehen und brachte keine antiquierten Stoffe, sondern kindergerechte ‚demokratische‘ Stoffe, die auch die Literatur der Zeit spiegelten. Jim Knopf zum Beispiel und dann viel von Paul Maar.

Und doch ist Hattü die Hauptperson, im Roman und im wirklichen Leben, die alles zusammenhielt, die seit 1972 die Bühne führte, weshalb, als sie 2003 starb, ihr Sohn problemlos übernehmen konnte. Über 6 000 Figuren soll sie geschnitzt haben und Thomas Hettche flicht ihr Kränze. Das ist das eine, wozu auch gehört, daß sie ihr Leben lang Scham empfand, was mit ihrer ersten Marionettenfigur, dem von ihr gebauten Kasperl, zusammenhängt, den sie im Stil der Zeit schnitzte, also der Nazizeit.

Das andere ist, daß Hettche den Anfang und die prägenden Jahre der Nachkriegszeit der Bundesrepublik Deutschland beschreibt. Da wäre es interessant, wie und ob in der DDR die Augsburger Puppenkiste wahrgenommen wurde und wie das nach 1989/90 wurde. Doch das ist eine andere Geschichte.

Foto:
Cover

Info:
Thomas Hettche, Herzfaden,Roman derAugsburger Puppenkiste, Kiepenheuer & Witsch,
ISBN 978-3-462-05256-5