Bildschirmfoto 2020 10 21 um 00.11.52Neues von der Krisenfront

Claus Wecker

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Für eine Chronik der Ereignisse ist es noch zu früh, aber eine Betrachtung der Coronakrise und ihrer Konsequenzen kann man jetzt schon mal anstellen. Georg Seeßlen hat einen Versuch unternommen und ist neben düsteren Betrachtungen, die katastrophale Entwicklungen einschließen, auch zu erhellenden Erkenntnissen gekommen.

Als exzellenter Filmkritiker ist Seeßlen gewohnt, von den Erscheinungen der Dinge auf ihren Wesenskern, vom Äußeren ins Innere vorzudringen. So betrachtet er auch unsere vom Covid-19-Virus bedrohte Welt. Ganz besonders gelungen ist ihm das in dem Kapitel »Der Körper und der Angriff auf ihn«.

Auf die Frage »Was ist eine Krankheit?« hat er eine »einfache und zugleich extrem skandalöse Erklärung: Die Krankheit ist eine Tatsache.« Sie bringt die Erkrankten auf den Boden der Wirklichkeit, und in diesem Fall kann sie schon durch die Todesdrohung eine existenzielle Bedeutung bekommen. Wenn nicht bei einem selbst, dann bei einem Nahestehenden. Es kommt Verantwortung hinzu und etwas, das gerne verdrängt wird: die Schuld.

In der Gesellschaft definiere die Krankheit eine (neue) Beziehung zwischen Subjekt und Autorität, heißt es. Mit allen Folgen, die der Autor in überzogener Kapitalismuskritik pessimistisch ausmalt.

Dagegen sind folgende drei Einwände vorzubringen:
- Zuerst hat der vom Autor gegeißelte Neoliberalismus zu beeindruckenden Forschungsanstrengungen geführt. Es ist ein Wettrennen um den ersten Impfstoff in Gang gekommen, der vermutlich in Rekordzeit zu mehreren, unterschiedlichen Impfmöglichkeiten führen wird.
- Zweitens: Ein System, das auf egoistischem Gewinnstreben basiert, produziert auf der anderen Seite auch altruistische Einstellungen. Hier sind beispielsweise die Lebensmitteleinkäufe junger Leute für ihre älteren Nachbarn zu nennen. Plötzlich bringen Ultras, die sich in den Fußballstadien asozial aufgeführt haben, der Oma die Vorräte an die Tür. Auch die Coronawelt steckt voller Ambivalenzen.
- Drittens: Die Alten, die notfalls dem ökonomischen Aufschwung geopfert werden müssten, wie manche denken, sind eben auch eine ökonomische Größe, auf die nicht wenige Unternehmen nur ungern verzichten würden. Die Geringschätzung des Alters und der Alten ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen.

Ein »filmischer« Höhepunkt des Buches ist Seeßlens Viruserklärung als Massendefekt des Lebens: »Gene, die sich aus ihrer ursprünglichen Funktion lösten, einsame Partikel auf der Suche nach ihrem ursprünglichen Zusammenhalt, dessen Verlust sie in tückische und destruktive Signale verwandelte. Welch eine grandiose Anti-Schöpfungsgeschichte ... Was also sind Gene? Der Teufel möglicherweise.«

Zudem bedenkenswert ist Seeßlens Überlegung, dass das Krisenhafte ein Wesenszug der menschlichen Zivilisation sein könnte, oder ein Ergebnis der beiden Sinn- und Kontrollsysteme Demokratie und Kapitalismus. Zur Überwindung der Krisenkonstruktion trage nicht bei, dass man die Krise bedenkt, sondern das Krisenhafte. Mit derartigen Gedanken ist sein Buch ein anregender Beitrag zur aktuellen Situation, auch bei weltanschaulichem Dissens.

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Info:
Georg Seeßlen: Coronakontrolle, oder: Nach der Krise ist vor der Katastrophe. Verlag: bahoe books, Wien 2020. 184 S.