FRANKFURT liest ein Buch, 24. Oktober bis 1. November 2020, Teil 4: Randbemerkungen
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Es hat den Anschein, dass in der neueren Literatur Frankfurt am Main selten vorkommt bzw. dass diese Stadt nach Goethe keine Schriftsteller von Rang mehr hervorgebracht zu haben scheint.
In diesem Dilemma ist der Jury von „Frankfurt liest ein Buch“ offenbar nichts anderes eingefallen als Erich Kubys Kolportage-Roman von 1958 über die ermordete Prostituierte Rosemarie Nitribitt. Eine Edel-Prostituierte sei sie gewesen. So lautete das Urteil, das die öffentliche Meinung unter tatkräftiger Hilfe der Boulevard-Presse damals über sie fällte. Was man sich darunter vorstellen sollte, bleibt offen. Goethes Hymne an das Göttliche, jenes „Hilfreich sei der Mensch, edel und gut“, dürfte kaum gemeint gewesen sein.
Möglicherweise bezog sich „edel“ auf ihren Körper; vermutlich war die junge Frau knackig und beischlafbereit sowieso. Wer ihre Qualitäten nutzen wollte, musste tief in die Tasche greifen, musste sie sich leisten können. Ihre Kundschaft wird deswegen aus Männern mit hohem Einkommen bestanden haben. Vielleicht waren sie, die Freier, mitunter edel oder edelblütig, was auf ihre Mätresse abgefärbt haben könnte. Wer sich von den Edlen der Wirtschaft und der Regierung befummeln lässt, wird möglicherweise selbst edel – auch wenn es lediglich ein Adeln dritten Grades ist.
Erich Kuby hat seine Protagonistin anscheinend etwas nüchterner gesehen: „Die zahlreichen Rosemaries zwischen Hamburg und München reden nicht öffentlich. Wie kämen sie dazu, sich das Geschäft zu verderben. Jene Rosemarie aus Frankfurt redet nicht mehr, sie wurde im Spätherbst 1957 ermordet. Man hat sie so tief verstummen lassen, dass nicht einmal ihr Tod für sie sprechen durfte.“ So heißt es am Anfang des Romans „Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind“.
Der Autor wäre gut beraten gewesen, es bei dieser Erkenntnis bewenden zu lassen. Und er hätte die Neigung der Reichen und Mächtigen zu leichten Mädchen kunstvoller und entlarvender beschreiben sollen; hätte ein systemkritisches Buch verfassen können über den Mief der Adenauer-Zeit und den rheinisch-katholischen Kapitalismus.
Dann stünde der Verein „Frankfurt liest ein Buch“ heute tatsächlich vor einer richtigen, wenn auch schwierigen Entscheidung. Beispielsweise für den etwas in Vergessenheit geratenen Jörg Fauser, der ein Leben zwischen Alkohol, Kokain und Sex führte und immer von dem ultimativen Roman träumte. Oder für den ebenfalls ruhelosen, aber völlig anders gestrickten Peter Kurzeck, der sich die Frankfurter Straßen erlaufen musste, weil er fast nie das Geld für Tram und U-Bahn besaß und die Hatz durch ein äußerst bescheidenes Leben in immer neuen Varianten erlebte.
Die Romane beider Autoren sind kantig, herb und mitunter schwer verdaulich. Laudatoren müssten bei der Eröffnungsveranstaltung in der Deutschen Bibliothek über ihre bildungsbürgerlichen Schatten springen und die Vertreter der Stadtgesellschaft könnten sich am Begrüßungssekt verschlucken, weil sie rasch merken würden, dass sie gemeint sind, wenn in den Büchern von Dödeln, Lumpen und Versagern die Rede ist.
Foto:
Rosemarie Nitribitt in ihrem Mercedes 190 SL, schwarz mit roten Ledersitzen
© Kriminalmuseum Frankfurt