Serie: Auf die Schnelle: Gute Unterhaltungsliteratur, gebraucht, Teil 11
Anna von Stillmark
Wien (Weltexpresso) – Auch hier brauchte es eine Interpretin, aber nicht als Biographin, sondern als Sprachrohr für Giselle Cycowicz, die als Gisela Friedmann 1927 in der damaligen Tschechoslowakei geboren wurde und heute als Auschwitzüberlebende in Israel zu Hause ist. Da das Buch von 2018 ist, haben wir nachgeforscht und wissen, daß sie auch 2020 ihre Aufgabe, durch die Nazis Traumatisierte zum Sprechen und wieder zum Leben zu bringen, weiterbetreiben konnte.
Davon handelt dieses Buch, das Sabine Adler, Deutschlandfunk, in Jerusalem zusammengetragen hat. Kennen gelernt hatten die beiden sich in Berlin anläßlich einer Ausstellung über Holocaustüberlebende in Bildern, wo die alte Dame die Journalistin sofort nach ihrem Namen Adler fragte, den viele Juden tragen. Auch eine interessante Frage, wie das mit den einst den Juden verordneten Namen war, die ja längst nicht mehr nur Juden tragen. Damals, in Berlin, war Giselle Cycowicz noch keine 90 Jahre, heute ist sie 93 und arbeitet in der selben Weise weiter. Sie hat, das steht dann überall, mit 14 Jahren „Die Heilung durch den Geist“ von Stefan Zweig gelesen, was ihr solchen Eindruck machte, daß sie wußte, das will sie auch einmal vermögen. Traumata heilen.
Doch die Traumata kamen erst später und lange konnte sie nicht heilen, sondern hat mit Mut, Ausdauer und dem Quäntchen Glück, daß man in den Todeslagern brauchte, das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt. Beim Lesen fällt einem auf, daß die Lebensleistung der Giselle eben auch darin liegt, daß sie durch den Heilprozeß über Erinnern und Verarbeiten von anderen auch sich selber heilt. Das ist ein schöner Gedanke. Denn in unserer Welt sind so viele Bedürftige, die vergessen, wieviel sie davon haben, also hätten, wenn sie anderen helfen, also hülfen.
Die Autorin besucht Giselle in Jerusalem. Längst kennt sie deren Biographie, die sie als Überlebende erst einmal in die USA führte, auf den leider wenigen Bildern im Buch sieht man sie als technische Zeichnerin als einzige Frau unter 80 Männern und imJ ahr 1955 in Tel Aviv, wo damals noch Gisela Friedmann für ein Jahr von ihrer Firma entsandt worden war und sich auf Anhieb wohl fühlte. Das mit den Männern war nicht so Thema, denn die ungarisch sprechende Familie Friedmann bildete eine Frauenmacht, so daß dann der jüdische amerikanische Ehemann passen mußte, was er tat, worauf alle Jiddisch sprachen.
Nach zwei Töchtern nimmt sie ihr eigenes Leben in die Hand, geht aufs College, belegt erst Philosophie und alte Geschichte und nach dem Abschluß auf die richtige Universität, wobei sie endlich Psychologie studiert, ihre Dissertation schreibt; sie beginnt eine Psychoanalyse, die ihr deutlich macht, daß dies nicht ihr Weg ist, denn auf ihre Probleme und Fragen bekommt sie vom Analytiker keine Antworten, die Klassische Analyse läßt reden. Die Menschen, um die sie sich in Zukunft kümmern wird, sind aber die, die nicht von alleine reden, sondern für die man eine Situation des Redenwollens, des Redenkönnens, ja des Redenmüssens herstellen muß.
Inzwischen war ihre ganze Großfamilie nach Israel gezogen, sie blieb des Mannes und der Mutter wegen in New York. Nach deren Tod aber ging sie und in gewisser Weise begann ihr Leben neu, denn jetzt ließen sich ihre Lebensziele: Beruf und Israel vereinen. Nicht viele sprechen in Israel Ungarisch. Darum bekam sie viele der Patienten, die kein Englisch und Hebräisch konnten und können. Auch um diese Patienten geht es jetzt, um deren Schicksal und wie Giselle ihnen helfen kann, die belastenden Schatten heller zu machen: das sind Rosa, Lisa, andere Frauen, aber auch Jehuda.
Geschickt verdröselt die Autorin die einzelnen Patienten mit dem Leben von Giselle. Sie selbst sagt von sich „Ich bin nicht religiöser, aber jüdischer geworden“, was für viele gilt, die sich früher in Deutschland zuvörderst als Deutsche fühlten, was ihnen die Nationalsozialisten gründlich austrieben. Daß sozusagen die Nazis dazu beigetragen haben, daß sich jüdisches Leben heute sehr viel stärker im Jüdischen begründet, ist Ironie der Geschichte. Damit ist es aber nicht getan. Die Familie von Giselle, insbesondere der Sohn, sind nicht mehr liberale, sondern orthodoxe, sogar streng orthodoxe Juden geworden.
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Info:
Sabine Adler, Weiterleben ohne Wenn und Aber. Die Shoah-Überlebende Giselle Cycowicz, Aufbau Verlag 2018
ISBN 978 3 351 03755 0