Bierce Mitten im Leben IIIErinnerung an den Schriftsteller Ambrose Bierce

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Um die Jahreswende von 1913 auf 1914 verliert sich in Mexiko die Spur eines der sowohl bedeutendsten als auch umstrittensten US-amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: Die von Ambrose Bierce.

Mitte Dezember 1913 reist der Einundsiebzigjährige nach Mexiko, um sich dem Revolutionär Francisco Villa im Kampf gegen den Diktator Porfirio Díaz anzuschließen. Vermutlich ist er im Verlauf der Revolutionswirren in der Nähe von Chihuahua umgekommen. Möglicherweise war er von Regierungstruppen festgenommen und anschließend hingerichtet worden. In manchen zeitgenössischen Berichten wird der 11. Januar 1914 als Todestag genannt, aber diese Angaben sind nicht belegt.

Bierce, der am 24. Juni 1842 im Meigs County, Ohio, geboren wurde, schien das Abenteuer geradezu gesucht zu haben. 1861 meldete er sich freiwillig zur Unionsarmee und nahm am amerikanischen Sezessionskrieg teil, dem „Civil War“ von 1861-1865. Seine nach Kriegsende veröffentlichten „Erzählungen von Soldaten und Zivilisten" sind zwar fiktive, aber realistische Zeugnisse dieses grausamen und blutigen Konflikts, der zum ersten totalen Krieg in der neueren Menschheitsgeschichte wurde. Er forderte über 600.000 Tote, unzählige Verletzte und hinterließ verwüstete Landstriche. Bierce beschrieb eindrucksvoll Leben und Sterben der direkt Beteiligten und der zufälligen, zumeist zivilen Opfer. Durch die nüchterne, schonungslose und völlig unpathetische Darstellung nahm er diesem Tiefpunkt in der US-amerikanischen Geschichte jedwede heroische Größe.

Sein investigatives, schlagzeilenträchtiges Schreiben, mit dem er entlarven und nie beschönigen wollte, fand seine Fortsetzung in journalistischen Beiträgen vor allem für Zeitungen des Medien-Tycoons William Randolph Hearst (dem Vorbild für Orson Welles Film „Citizen Kane“). Und er brillierte mit bitter-ironischen Aphorismen, die unter dem Titel „Aus dem Wörterbuch des Teufels“ in mehreren Bänden erschienen.

Bierce ist häufig der Vorwurf gemacht worden, ein Misanthrop - also ein Menschenfeind - gewesen zu sein. Der zynische Unterton seiner Erzählungen, die auf absolut ausweglose Situationen zulaufen und keinen Gedanken an Hoffnung zulassen, scheinen das zu belegen. Andererseits schilderte Bierce seine Charaktere so, wie das eigentlich nur jemand vermag, der über eine breite Gefühlsskala verfügte. Der sowohl hasserfüllt und feindselig, daneben nüchtern und sachlich nicht zuletzt auch melancholisch und romantisch schreiben konnte.

Vermutlich - und in seiner Lebensgeschichte deutet einiges darauf hin - verbarg sich hinter der misanthropischen Maske ein in sich gekehrter und scheuer Mann, den die Widrigkeiten des Lebens, insbesondere die Tragödie seiner Ehe, desillusionierten und der sich in eine Menschenverachtung flüchtete, die nur äußerlich war. Durch sein gesamtes schriftstellerisches Werk ziehen sich die Themen Niederlage, Unrecht, Verzweiflung und Tod. Die Figuren in seinen Romanen führen ihr Scheitern vor allem dadurch herbei, indem sie den Tod, der sie mitten im Leben auszulöschen droht, mit allen Mitteln, vor allem dem der Gewalt, abzuwenden trachten.

Die Ursache des US-amerikanischen Bürgerkriegs (Sezessionskriegs), der sich wie ein roter Faden durchs Bierce’ Geschichten zieht, wird sowohl in den Vereinigten Staaten selbst als auch im Ausland vor allem in der Versklavung der Afrikaner gesehen, die als billige und entrechtete Lohnarbeiter nach Amerika verschleppt und dort ausgebeutet wurden. Tatsächlich aber war die Sklaverei lediglich das sichtbarste Symptom eines gespaltenen Landes.

Ambrose Bierce entschlüsselte für jeden Leser erkennbar die tatsächlichen Hauptgründe des Kriegs. Nämlich die Spaltung des Landes durch seine unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung. Während im Norden die industrielle Produktion zur Grundlage einer kräftig expandierenden Wirtschaft geworden war, verharrte der Süden in seinen überwiegend landwirtschaftlichen Strukturen, die von großen Plantagen (vor allem Baumwollpflanzungen) sowie von weidewirtschaftlichen Betrieben (Farmen und Ranches) geprägt waren. Herrschte im Norden ein freier Markt, wenn auch ohne nennenswerte soziale Absicherung der Beschäftigten, zeichnete sich der Süden durch ein verkrustetes hierarchisches System aus, dessen Grundlage die Sklavenarbeit bildete; eine typische Arbeiterschaft wie im Norden war kaum anzutreffen. Um eine anhaltende industrielle Expansion des gesamten Landes sicherzustellen, war es unumgänglich, die Märkte im Inneren einander anzugleichen und auszuweiten. Faktisch befanden sich die Vereinigten Staaten mitten in einem sich ständig beschleunigenden Übergang von handwerklich geprägten Manufakturen und landwirtschaftlichen Großbetrieben hin zur kapitalistischen Industrieproduktion.

Somit geriet der Bürgerkrieg nicht nur zu einer Auseinandersetzung, in der hochgerüstete Armeen gegeneinander antraten, sondern auch zu einem Krieg der Individuen, gar der politischen und religiösen Weltanschauungen und riss sogar Familien auseinander. In der Erzählung „Ein Reiter am Horizont“ beschreibt Bierce den Konflikt zwischen einem Vater und seinem Sohn:

„Eines Morgens war Carter Druse vom Frühstückstisch aufgestanden und hatte ruhig, aber bestimmt gesagt: »Vater, in Grafton ist ein Regiment der Unionstruppen eingetroffen. Ich werde mich ihm anschließen.« Der Vater hob sein löwenähnliches Haupt, sah seinen Sohn einen Augenblick lang schweigend an und antwortete: »Nun, so gehen Sie mein Herr, und was immer sich ereignen mag, tun Sie das, was Sie für Ihre Pflicht halten. Virginia, für das Sie ein Verräter sind, muss ohne Sie auskommen. Sollten wir beide am Ende dieses Krieges noch leben, werden wir über diese Angelegenheit weiter sprechen. Ihre Mutter befindet sich, wie Ihnen der Arzt mitgeteilt hat, in einer sehr kritischen Verfassung. Im besten Falle kann sie noch wenige Wochen unter uns sein. Doch diese Zeit ist zu kostbar. Es wäre besser, sie nicht zu beunruhigen.«
Danach verbeugte sich Carter Druse ehrfurchtsvoll vor seinem Vater, der den Gruß mit würdiger Höflichkeit, die sein gebrochenes Herz kaschieren sollte, erwiderte, und verließ das Haus seiner Kindheit, um Soldat zu werden.“

Foto:
Umschlag der Ausgabe gesammelter Erzählungen, die in der „Büchergilde Gutenberg“ 1978 erschienen waren.
© Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1978