Leseschrott 72 dpiÜber die Diktatur des ungeschulten Geschmacks

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Verlage und Buchhandlungen suchen zunehmend Marketing- und Vertriebsexperten.

Zumindest könnte man diesen Eindruck gewinnen, falls man die Stellenanzeigen im Verbandsblatt der Verlage und Buchhandlungen, dem „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“, verfolgt. Fachwissen über Literatur (Belletristik, Sachbücher, Fachbücher, wissenschaftliche Veröffentlichungen) scheint hingegen kaum noch gefragt zu sein. Bücher, gedruckt oder digitalisiert, scheinen zu einer Ware geworden zu sein, die auch von ihrer äußeren Form her geeignet sein muss, in Selbstbedienungsregalen und auf Wühltischen gestapelt zu werden. Ich denke allein an die aufgedruckten Preise, die der Verwendung als Geschenk entgegenstehen. Lancierte Kaufempfehlungen in den Massenmedien (Rezensionen, die den PR-Texten der Verlage bis ins Detail folgen) sollen weitgehend die fachkundige Beratung ersetzen.

Ähnliches gilt für Programmabteilungen in Verlagen, wo nach Rezepturen für Bestseller gesucht wird, in den allermeisten Fällen jedoch vergeblich. Sämtliche Versuche, einen aussagefähigen Algorithmus zu programmieren, sind gescheitert und werden mutmaßlich weiterhin scheitern. Die Restauflagen, die im „Modernen Antiquariat“ zu Niedrigpreisen angeboten werden, belegen, dass längst der fahrlässige Irrtum, also die Fehleinschätzung des Publikums, zumindest eines relevanten Teils von ihm, die Herrschaft in Lektoraten übernommen hat.

Wichtige Aufgaben in diesem Produktions- und Vermarktungskonzept kommen Bestsellerlisten zu, deren Objektivität angezweifelt werden darf. Würden die Bestsellerlisten nur annähernd die Realität wiedergeben, stünden das Liederbuch „Die Mundorgel“, der Rechtschreib-DUDEN und zumindest eine Bibel-Ausgabe allwöchentlich auf den ersten Plätzen.

Bücher sind zu einer austauschbaren Ware geworden, deren jeweiliger USP (Unique Selling Proposition = Alleinstellungsmerkmal) nicht mehr die unverwechselbare Eigenschaft (inhaltliche Relevanz, stilistische Norm), sondern ihre Eignung zum Massenabsatz ist. Und diese Wende wurde von großen Verlagen und buchhändlerischen Vertriebsfirmen ermöglicht, die literarische und verlegerische Kompetenz durch ein rein betriebswirtschaftliches Denken ohne jede kulturelle Reflexion ersetzt haben. Und die nicht kapieren können oder wollen, dass sie selbst zu den Opfern einer solchen Entwicklung werden könnten. Denn längst haben sie einen Meister des Massengeschäfts auf den Plan gerufen: das Vertriebsunternehmen Amazon. Das bietet im Bereich Bücher alles an, was eine stationäre Sortimentsbuchhandlung ebenfalls anhand eines digitalen Katalogs nachweisen und besorgen kann (vieles führt sie sogar am Lager). Die Zustellung am nächsten Werktag bzw. die häufig weniger aufwendige Abholung im Laden ist bei Romanen, Sachbüchern, Kinder- und Jugendbüchern und selbst bei vielen Fachbüchern bei beiden Bezugsquellen garantiert. Selbstredend verfügt der größte Teil der Sortimentsbuchhandlungen vor Ort längst über Internetshops, in denen die Leser von zuhause aus einkaufen können. Logistischer Hintergrund sind bei Amazon sowohl eigene Großlager als auch der Zugriff auf die Lager der Buchgrossisten (Barsortimente). Der Buchhandel bedient sich ebenfalls bei den Barsortimenten, die ihn werktäglich beliefern. Deswegen ist Amazon lediglich die massenhaft kolportierte Falschinformation über eine Bezugsquelle. Konzipiert auf Menschen, die nicht viel nachdenken.

Es lohnt sich, einen tieferen Blick in die schon erwähnten Hitlisten über verkaufte Bücher zu werfen. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichte die erste im Jahr 1960. Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ führte 1961 eine Bestsellerliste ein, die bis heute zu den bekanntesten ihrer Art zählt. Bis 1971 fragte das Institut für Demoskopie in Allensbach die für die Erstellung der Rangfolgen notwendigen Daten bei ausgewählten Buchhandlungen ab, 1972 wurde diese Aufgabe dem Branchenmagazin „Buchreport“ übertragen. Bis zum Jahr 2000 mussten die Verkaufsmeldungen des Handels nicht bewiesen werden; es reichte aus, eine Liste auszufüllen. Erst seit 2001 fließen die Daten aus den Warenwirtschaftssystemen von 400 repräsentativ ausgewählten Buchhandlungen in die Erhebung ein. Aber auch in Warenwirtschaftssysteme (das sind digitale Kassen, die jeden verkauften Titel erfassen, die Warenbestände verändern und Nachbestellungen auslösen können)  - in diese Warenwirtschaftssysteme kann man Parameter programmieren. Also bestimmte Waren- und Themengruppen sowie Erscheinungszeiträume bevorzugen. Aber man kann auch interne Verlagerungen und Musteraussendungen darüber vornehmen, die auf den ersten Blick wie Absatzzahlen aussehen und bei nichtdifferenzierender Bewertung dazu werden.

Die „SPIEGEL-Bestsellerliste“ hat sich hinsichtlich der Lenkung von Kundeninteressen zu einem bedeutenden Werkzeug der Branche entwickelt. Besondere Nutznießer sind die großen Filialisten sowie der Online-Händler Amazon. Dort wurde die Sortierung der angebotenen Bücher nach Autoren und /oder Literaturgattungen einschließlich inhaltlicher Bewertungen abgelöst durch eine Auswahl, welche sich eng an der Platzierung auf Bestenlisten orientiert. Der Kundschaft wird zusätzlich das angebliche Kaufverhalten anderer als Richtschnur empfohlen: „Wer dieses Buch bestellte, hat auch folgende Titel gekauft“.

Doch auch Verkaufslisten, die dem tatsächlichen Warenabsatz entsprechen oder ihm doch sehr nahe kommen, vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass der Verkaufserfolg eines Buches dessen inhaltliche Qualität in den Hintergrund rückt. Letzter sollte vor allem für öffentliche Bibliotheken das wesentliche Einkaufskriterium sein, was nicht zu Lasten einer gut geschriebenen Unterhaltungsliteratur gehen muss. Die Kultusministerkonferenz hat zuletzt am 1. Februar 2007 in ihren Empfehlungen für das Angebot an Kinder- und Jugendliteratur in kommunalen Büchereien an ein allgemeines Votum von 1994 erinnert. Wörtlich heißt es darin:
„Die Öffentlichen Bibliotheken sind Informations-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Sie haben die Aufgabe, der Bevölkerung Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Bild- und Tonträger sowie andere Medien bereitzustellen, ebenso Daten und Informationen zu übermitteln und die Benutzerinnen und Benutzer zu beraten.“ Dennoch ist das Tor zu kommunalen Büchereien immer häufiger die unreflektierte Übernahme der „SPIEGEL-Bestsellerliste“.

Und diese wird als Referenz von einem Unternehmen eingesetzt, das sich ursprünglich im Eigentum öffentlicher Körperschaften befand, sich aber seit 2005 zu zwei Dritteln im Privatbesitz befindet. Die Rede ist vom „ekz.bibliotheksservice“ in Reutlingen, der einmal „Einkaufszentrale für öffentliche Bibliotheken“ hieß. Dessen angestellte und externe Lektoren durchforsten die Verlagsangebote, was nominell anhand der Richtlinien der Kultusministerkonferenz geschehen müsste, und erstellen Einkaufsempfehlungen für die Büchereien. Allem Anschein basieren diese allenfalls nur zu einem Teil auf dem literarischen Urteilsvermögen von Fachleuten. Denn nachweislich werden immer stärker Bestsellerlisten unkritisch herangezogen. Da die staatlichen Bibliotheken in besonderer Weise unter dem verordneten Sparzwang der Landesregierungen leiden („Schuldenbremse“), ist man dort gezwungen, den Stab an Bibliothekaren klein zu halten und verlässt sich auf die „ekz“.

Die stattet die bei ihr bestellten Bände auch ausleihfertig aus (Schutzfolie, Chip für die elektronische Erfassung) und bietet auch Regalsysteme an. Der anhaltende Trend zum Einkauf in Reutlingen bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den örtlichen Buchhandel, der jahrzehntelang die Haupteinkaufsquelle für Büchereien war. Auf diese Weise trägt die öffentliche Hand zur Verflachung der Literatur bei. Die – nicht nur von der KMK - geforderte Beratung ist allem Anschein nach der Diktatur des ungeschulten Geschmacks gewichen.

Zu den Vermarktungsstrategien der Branche zählen auch die alljährlichen Long- und Shortlisten mit Titeln, die vom „Börsenverein des Deutschen Buchhandels“ für den „Deutschen Buchpreis“ nominiert werden. Zwar sind die berufenen Jurys unabhängig, aber es fällt auf, wenn Juroren, die sich öffentlich zu ihren Favoriten äußern, kaum mehr zu sagen wissen als das, was auf Klappentexten zu lesen ist.

Ähnliche Fragen stellen sich bei der Wahl zu „Frankfurt liest ein Buch“, dem sich selbst so bezeichnenden „Lesefest“ in der Mainmetropole. Denn Autoren und Titel zu präsentieren, die eine Nähe zu Frankfurt aufweisen, erscheint bei genauer Betrachtung als zu kleiner gemeinsamer Nenner. Was bei Valentin Sengers „Kaiserhofstraße 12“, Wilhelm Genazinos „Abschaffel“ und Anna Seghers „Das siebte Kreuz“ überzeugte, erschien bei Dieter David Seuthes „Frankfurt verboten“ oder Martin Mosebachs „Westend“ als fragwürdig, weil literarisch schwach bis unplausibel. Als Mitverantwortlicher einer Literaturinitiative im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen werde immer wieder auf Autoren wie Jörg Fauser, Peter Kurzeck oder Gerhard Zwerenz angesprochen – im Sinn von Vorschlägen für „Frankfurt liest ein Buch“. Sie scheinen für die Widersprüche dieser Stadt besonders typisch zu sein. Aber möglicherweise sind sie deswegen nicht massentauglich.

Foto:
Collage „Leseschrott“
© Medien-Redaktionsgemeinschaft 2019