Claudia Schulmerich
Hamburg (Weltexpresso) – Also hier wird wirklich das Unterste zuoberst gekehrt und man selbst gleich mit. Also hören Sie: nach den ersten Seiten wollte ich das mit 505 Seiten dicke Buch gleich wieder zur Seite legen. Schon wieder eins der ganz armen Wesen, diese Tabitha, die in der ersten Nacht im Gefängnis zu hören bekommt: „‘Alle stecken in Schwierigkeiten‘, sagte sie. ‚Deswegen sind sie hier.‘“
Und dann geht es mit den armen Kindern der Gefangenen weiter.Eine dünne, verhärmte, verzweifelte, wütende Tabitha, mit wenig Geld. Und des Mordes angeklagt. Will ich das wirklich lesen, will ich mir das wirklich antun. „Jetzt befand sie sich in einer Zelle, die vier Schritte lang und drei Schritte breit war. Ein winziges, verriegeltes Fenster ging hinaus auf einen Hof, begrenzt durch eine von Stacheldraht gekrönte Mauer,, inter der man gerade noch die dunstigen Hügel in der Ferne ausmachen konnte....“
Und soll ich Ihnen was sagen, ich habe - nachdem ich aus Disziplin erst einmal weiterlas, nicht aus Leselust – Stunde für Stunde, die ganze Nacht durchgelesen, so hat es mich dann gepackt, was dieser anfängliche Unsympathling, eine arme verwirrte, vom Leben nicht nur unfreundlich, sondern gemein behandelte junge Frau an Widerstand gegen festgemauerte und erstarrte Verhältnisse zuwege bringt. Das ist darüberhinaus oft so komisch, daß man in lautes Lachen ausbricht. Und das mit diesem todtraurigen Hintergrund.
Und bevor die Geschichte nun endlich erzählt wird, noch ein für mich wichtiger Hinweis, den ich seit den Büchern, dem Film und dem Kalender über die Folgen von Contergan von Niko von Glasow NoBody’s Perfect nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Da sah man Geschädigte aus allen Ländern und die englischen vorneweg, die zudem die höchsten Entschädigungsbeträge bekamen, wobei klar ist, daß kein Geld der Welt aufgetretene Folgen von Contergan heilen kann. Einer ohne Hände und Füße ist mir in besonderer Erinnerung, der lustig mit Kumpanen im Hintergrund ungeheuer selbstbewußt die Verhandlungen mit der deutschen Firma schilderte. So, als ob er Füße und Hände hätte. Und da erkannte ich, was ich instinktiv schon davor wußte. England erlaubt seinen Bürgern, bzw. die Einwohner stellen es selbst her, daß die gesellschaftliche Norm, nämlich irgendwie ähnlich wie die anderen zu sein, hier nicht gilt. Die Toleranz, daß Menschen unterschiedlich sind, ist einfach in England ausgeprägter, so daß sie auch dann faktisch mit Macken mit....viel stärker als bei uns.
Wenn Sie das nicht glauben, ist dieses Buch für Sie genau richtig, und wer es wußte, dem ist es eine willkommene Bestätigung. Diese paar Leute, die im kleinen Dorf leben, sind ein ganzes Panoptikum. Und dann ist einer tot. Ausgerechnet im Schuppen dieser erst jüngst ins Dorf zurückgezogenen Tabitha, die nach dem Tod der Mutter geerbt hatte und ein renovierungsbedürftiges Haus im Dorf günstig erwerben konnte. Ausgerechnet ist der ermordet, der sie, die Schülerin damals als Lehrer mißbrauchte, was sie bisher ganz gut verdrängte, was ihr aber jetzt von den anderen, erst von der Polizei, dann der Staatsanwaltschaft vorgehalten wird, als typisches Motiv für Mord.
Doch als erste besucht sie im Gefängnis die Ehefrau des Mordopfers und später sogar der Sohn. Haben die ein schlechtes Gewissen, denn beide sprechen schlecht vom Toten. Und nach und nach tut das jeder aus dem Dorf. Das heißt aber auch, daß jeder ein Motiv hatte.
Doch die bestellte Verteidigerin schlägt ihr vor, sich als schuldig zu bekennen, denn sie würde dann nicht des Mordes, sondern ‚nur‘ des Totschlags angeklagt. Aber sie ist doch nicht schuldig. Oder doch. Das ist der Schreibtrick der beiden, das Ehepaar French, daß eigentlich bis zum Schluß die Möglichkeit, daß die Angeklagte doch die Mörderin ist, nicht ausgeschlossen ist. Zwar abnehmend, denn sie wird immer wacher, aber so richtig kann sie den Mord nicht ausschließen. Sie glaubt nur nicht dran. Denn sie ist keine Mörderin. Sie ist aufsässig, übertrieben empfindlich, manchmal auch ohne Grund bissig und vor allem so oft total ausfallend, wütend und sie schlägt sogar mit Fäusten zu. Wie man dann weiterliest, aus gutem Grund!
Und der zweite Einfall, warum die Spannung im Buch mit jeder Seite zu nimmt, das ist eine englische Besonderheit, die in Deutschland nicht möglich wäre. Nach der Ablehnung der vorgesehenen Verteidigerin, übernimmt die Angeklagte ihre eigene Verteidigung. Dazu steht ihr die Einsicht in alle Gerichtsunterlagen zu. Aus diesem Tatbestand entwickelt sich ein Feuerwerk von urkomischen Situationen und der Beweislage. Wir sind sozusagen im Gerichtssaal dabei, verfolgen die oft unglückseligen Versuche der Angeklagten, als Verteidigerin Punkte zu machen, erleben aber auch, wie sie – da sie eben wirklich nichts von den Präliminarien versteht – einen versuchten Deal der Richterin im Gericht ausplaudert und dadurch das Ende dieses Prozesses und die Entlassung der Geschworenen verursacht. Es müssen neue her, der Prozeß geht weiter.
Tabitha hatte von Anfang an, sich immer wieder die Videobänder angeschaut, die vor und im Inneren des einzigen Ladens, der Zentrum mit Bushaltestelle ist, alles festhalten. Und sie hat für die Dorfbewohner deren Bewegung und Äußerungen nach und nach so vervollständigt, daß sie am Schluß durch ein Aha-Erlebnis genau weiß, wer es war, aber mit einer anderen Volte den ganzen Prozeß platzen läßt und sie als nicht schuldig in Freiheit ist.
Sie weiß zwar, wer es war, läßt diesen auch ein Schuldeingeständnis unterschreiben, aber sie braucht keinen Schuldspruch für diesen, der sie erst als unschuldig bezeichnet hätte. Sie weiß zumindest, was sie nicht will, nämlich länger in diesem menschlichen Sumpf zu leben. Und wir verlassen sie mit der Gewißheit, daß sie jetzt woanders schon ihren Weg gehen wird.
Fortsetzung folgt
DIE KRIMIBESTENLISTE JANUAR
1 (–) Candice Fox: Dark
Aus dem Englischen von
Andrea O’Brien.
Suhrkamp, 394 Seiten, 15,95 Euro
Los Angeles. Irgendwo ist die Beute von einem Bankraub versteckt. Aber das spielt
erstmal keine Rolle, denn die Tochter der Diebin Sneak ist verschwunden. Vier
Frauen, eine Ärztin und verurteilte Mörderin, eine Detective, eine Gangsterin und
die Mutter suchen sie. Im Dunkel des Sunshine State. Rabiat.
2 (2) Dominique Manotti: Marseille 73
Aus dem Französischen von Iris Konopik.
Ariadne im Argument Verlag,
400 Seiten, 23 Euro
Als ein verrückter Araber einen Busfahrer ersticht, legen die Fremdenhasser los.
Malek, 16, Berufsschüler, wird niedergeschossen. Commissaire Daquin und sein
Team agieren taktisch klug, fast allein gegen Ausländerhass, Mordwut, Verlustangst,
Rassisten im Apparat. All das gab es schon in Marseille 1973.
3 (1) Denise Mina: Götter und Tiere
Aus dem Englischen von Karen Gerwig.
Ariadne im Argument Verlag,
352 Seiten, 21 Euro
Glasgow. Ein Raubüberfall mit Todesopfer, ein alternder Labour-Politiker in Seitensprung-Kalamitäten, Polizisten mit Bergen von Bestechungsgeld, ein moralisch
unsicherer Erbe – alles ganz normal. Die Serie um Detective Alex Morrow: das hellwache Porträt einer starken Frau und ihrer chaotischen Stadt.
4 (–) Tim MacGabhann:
Der erste Tote
Aus dem Englischen von Conny Lösch.
Suhrkamp, 274 Seiten, 15,95 Euro
Poza Rica, Mexiko. Blutiges Erdöl. Der irische Journalist Andrew und der Fotograf
Carlos stolpern über einen massakrierten Öko-Aktivisten. Als auch Carlos ermordet
wird – von einem Polizisten –, überwindet Andrew seine Angst und recherchiert:
Staat & US-Konzerne vereint gegen Natur und Indigene.
5 (–) Robert Galbraith: Böses Blut
Aus dem Englischen von Wulf Bergner,
Christoph Göhler, Kristof Kurz.
Blanvalet, 1194 Seiten, 26 Euro
London, England. Strike und Robin haben einen Cold Case: Vor 40 Jahren verschwand eine Ärztin.
Ein Serienmörder ist verdächtig, jetzt will die Tochter Wahrheit. Ergebnis wie Lösungsweg können Vorurteile Hegenden
nicht gefallen. Galbraith seziert Beziehungszwänge. Gekonnt weitschweifige Bösartigkeit.
6 (–) Samantha Harvey:
Westwind
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs.
Atrium, 382 Seiten, 22 Euro
„Oakham“, Somerset 1491. Der reichste Mann des ärmsten Dorfes ist tot, der Dekan
steckt seine Nase in alle Ritzen, Pfarrer John Reve möchte nicht „Richter und
Sheriff“ zugleich sein. Als ließe sich die Zeit zurückdrehen, erzählt Reves Ich vier
Tage rückwärts: Scham, (geistige) Armut, Lügen.
7 (4) Mick Herron: Real Tigers
Aus dem Englischen von
Stefanie Schäfer.
Diogenes, 480 Seiten, 18 Euro
London. Ein angeheuertes „Tiger-Team“ greift testhalber den Geheimdienst MI5
an. So der trickreiche Plan. Was aber, wenn die Tiger real sind? Jackson Lambs
Agenten, eigentlich auf dem Abschiebegleis, zeigen, was sie draufhaben. Halsbrecherische Satire auf die eitle Upper Class und ihre Spy-Bürokratie.
8 (–) Nicci French: Eine bittere Wahrheit
Aus dem Englischen von
Birgit Moosmüller.
C. Bertelsmann, 506 Seiten, 16 Euro
„Okeham“, England. Tabitha ist in das Dorf ihrer Jugend zurückgekehrt, hat den
Lehrer von damals tot im Schuppen gefunden und sitzt jetzt unter Mordanklage in
Untersuchungshaft: depressiv, von Medikamenten benebelt, sich selbst verteidigend
ohne Beistand. Psychologisch fein, leise Spannung.
9 (–) Iva Procházková: Die Residentur
Aus dem Tschechischen von
Mirko Kraetsch.
Braumüller, 573 Seiten, 24 Euro
Prag. Junge Tschechen im Widerstand gegen Eltern und Subordination unter Großrussland, bewaffnet für die Unabhängigkeit der Ex-Sowjetrepublik „Kasmenien“.
Mischung aus Familien-, Gesellschafts- und Spionageroman mit satirischen Pfeilen
in alle Richtungen, besonders gegen postsowjetische Duckmäuserei.
10 (–) David Whish-Wilson:
Das große Aufräumen
Aus dem Englischen von Sven Koch.
Suhrkamp, 327 Seiten, 10 Euro
Perth 1983. Ex-Superintendent Swann, jetzt Privatdetektiv, soll dem neuen Premier
die unsauberen Wege ebnen. Mit und gegen Bikerclubs, korrupte Polizeibanden,
lokale Gangster, Baulöwen und Spindoctors. Swann verfolgt seine eigene Agenda:
treu, mit leichten Skrupeln, kompromisslos clever und rau.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint nicht mehr am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2021 sind allerdings noch nicht einmal über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste ab 2021 noch nicht einmal im FAZ-Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren? Da muß man froh sein, daß der Deutschlandfunk Kultur die Kriminalromane als anspruchsvolles Genre noch nicht aufgegeben hat, sondern weiterhin jeden ersten Freitag im Monat die neue Liste bringt, die wir sobald wir können, nachdrucken.
An jedem ersten Freitag des Monats geben also 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste war nach demeine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur, der Sender, der nun die Krimibestenliste alleine veröffentlicht und trägt. Das wäre schon für die Regierungskoalition in Sachsen-Anhalt ein Argument, den Rundfunkgebühren zuzustimmen.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im Dezember 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20678-goetter-und-tiere-von-denise-mina-von-ariadne-weiterhin-auf-platz-
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20679-platz-6-eric-plamondon-mit-taqawan-aus-dem-lenos-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20680-platz-1-denise-mina-goetter-und-tiere-ariadne-im-argument-verlag
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20735-die-guten-krimis-von-gestern-annas-rendon-steph-cha-u-a
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20733-real-tigers-von-mick-herron-von-diogenes-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20894-platz-9-und-10-ungewoehnliche-amerikanische-verbrecher-damals-1919-und-heute
Besprechungen der Krimibestenliste im Januar 2021
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20958-dark-von-candice-fox-von-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20972-unter-den-ausgeschiedenen-kalmann-von-joachim-b-schmidt
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21031-unter-den-ausgeschiedenen-heisses-blut-von-un-su-kim
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/21023-unter-den-ausgeschiedenen-dammbruch-von-robert-brack