stuart hallSerie: Auf die Schnelle: Gute Unterhaltungsliteratur, gebraucht, Teil 42

Hanno Lustig

Köln (Weltexpresso) – Ach, wir hätten noch viele Seiten über Markaris und seinen Meister Angelopoulos schreiben wollen, weil einfach das Lesen alle dessen Filme vor den Augen erscheinen lassen. Neu dagegen ist für die meisten von uns Stuart Hall, der mit Jamaika und England zwei weit auseinanderliegende Inseln als Heimat hat. Wobei man anmerken muß, daß Jamaika noch immer Teil des Commonwealth ist, wo sogar die Amtssprache Englisch ist.

VERTRAUTER FREMDER. Ein Leben zwischen zwei Inseln von Stuart Hall

Bleiben wir erst einmal beim Autor. Nimmt man es ernst, dann gehört er zu den Jamaikanern, die zwar ihre Wurzeln in Jamaika haben – das übrigens in der Karibischen See liegt, südlich von Kuba - , dann aber zur Ausbildung nach England gehen und dort bleiben. Grundsätzlich bleiben, auch wenn sie die Verwandten zu Hause besuchen. Doch Stuart Hall wurde für England und die europäische Kulturwissenschaft später viel wichtiger.

Stuart Hall wurde am 3. Februar 1932 in Kingston geboren und starb am 10. Februar 2014 in London, wo er auch lebte. Er gehört zu den britischen marxistischen Soziologen, die über die Lehre hinaus auch politische Aktivisten waren und sind. Bekannt wurde er als Kulturtheoretiker und als einer der Gründer der Denkschule, die man British Cultural Studies nennt sowie einer der Herausgeber der New Left Review.

Wenn der Übersetzer mit Ronald Gutberlet angegeben ist, muß man hinzufügen, daß es ein Team gab, das aus seinen Schriften auswählte, grundsätzlich aber dies aber eine Art Autobiographie ist, die in Gesprächen mit seinem Freund Bill Schwarz zustandekam. So kam es auch zu zwei Vorworten. Das erste vom Team, das Editorial Board,die auch darauf eingehen, wie schwierig es ist, bestimmte englische Begriffe ins Deutsche zu bringen sowie die „genusdifferenzierten“ Wörter zu markieren. Und dann erst die Übersetzung der Begriffe Race und racial, die im Deutschen durch den Nationalsozialismus, aber auch schon die vorherige Diskussion diskreditiert sind. Abgesehen davon, daß die heutige Forschung eindeutig verneint, daß Menschen unterschiedliche Rassen unterscheiden, der Begriff also kein analytischer, sondern eine ideologische Konstruktion ist. Hilfskonstruktion ist dann, überhaupt nicht zu übersetzen, sondern es bei race zu belassen. Was man diskutieren muß, da die englischen Begriffe sowieso schon so lange überhand nehmen.

Auch der Gesprächspartner Bill Schwarz steuert ein Vorwort bei, in dem er betont, wie sehr Stuart Hall ein Mann des Austausches, des Gesprächs war , so daß in einem Buch über ihn auch weitere Personen einfach vorhanden sein müssen. Er schreibt dies nicht, aber man denkt es mit: zuvörderst eben auch Bill Schwarz, wenn Hall so dialogisch orientiert war.

Das Buch selbst ist in vier Teile unterteilt, die jeweils Untertitel hat.

Als Beispiel
Teil 1 JAMAIKA
1. Koloniale Landschaften, koloniale Subjekte
2. Die zwei Jamaikas
3.Die Karibik denken: Das Denken kreolisieren
4. Race und ihre Verleugnung.

An den vier Teilen entlang werden also sowohl die Bedingungen der Allgemeinheit, aber auch das individuelle Leben von Stuart Hall geschildert. Für uns war die jamaikanische Gesellschaft am spannendsten . Das liegt sicher auch daran, daß wir zweimal dort sein konnten und verblüfft die absolut stabile Situation von Frauen beobachtet haben, noch besser müßte man sagen: Mütter. Keine Frau wartet in Jamaika auf einen Mann, der sie heiratet. Männer müssen sich beweisen. So zum Beispiel werden erst Kinder gezeugt, und erst wenn der biologische Vater sich auch als Erzieher und potentieller Ehemann bewährt, sind die Frauen und Mütter bereit, ihn zu heiraten. Keine Ahnung, wie man das soziologisch verortet.

Im Buch nun wurde für mich das Interessanteste, wie die Jamaikaner ihre Wurzeln sehen, die als ‚afrikanische Präsenz‘ in der karibischen Gesellschaft und Kultur, einschließlich Sprache, Religion, Kunst und Musik virulent ist. „Für viele in der Diaspora lebende Schwarze wird Afrika zu einer "‘imaginierten Gemeinschaft‘, zu der sie sich zugehörig fühlen. Hall weist jedoch darauf hin, dass es kein Zurück zu Afrika gibt, das vor der Sklaverei existierte, weil sich auch Afrika verändert hat. Zweitens beschreibt Hall die europäische Präsenz in der karibischen kulturellen Identität als das Erbe von Kolonialismus, Rassismus, Macht und Ausgrenzung. Im Gegensatz zur "Présence Africaine" ist die europäische Präsenz nicht unausgesprochen, obwohl viele von der Geschichte des Unterdrückers getrennt werden möchten. Hall argumentiert jedoch, dass Karibik und Diaspora anerkennen müssen, dass die europäische Präsenz auch zu einem untrennbaren Bestandteil ihrer eigenen Identität geworden ist.“ Das Dritte ist dann die amerikanische Präsenz, wo dann Menschen und Kulturen aus der ganzen Welt kollidieren, wobei die Eingeborenen damals vertrieben wurden.

Ds Buch faßt auch die politische Theorien seit den 60er Jahren zusammen sowie teilweise die politische Praxis. Sehr interessant ist, Diskussionen und Theorien, die man selber kennt, aus anderer Perspektive zu lesen: auch Karl Marx zum Beispiel.

Foto:
Cover

Info:
Stuart Hall, Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln, Argument Verlag/InkriT 2020
ISBN 978 3 86674 109 1