ein versteckDie wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand von Roxane van Iperen bei Hoffmann und Campe, anläßlich der Befreiung von Auschwitz durch die Russische Armee

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im letzten Jahr hatte WELTEXPRESSO es geschafft, die Ausgabe vom 27. Januar, als Gedenktag für jegliche Verfolgung und Massenmord an Juden durch Deutsche, allein mit Artikeln zum Thema zu gestalten. Das war ein Kraftakt, den wir durch Links lebendig halten wollen. Aber natürlich werden wir auch heute Neues dazu bringen, wozu auch immer der Gedenkakt der Stadt Frankfurt an der Paulskirche gehört. Und vor allem die Erinnerung: daß am 27. Januar 1945 die Russische Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit hat.

Hatten wir das letztes Jahr angezeigt? Auf den Film hingewiesen, in dem man sich direkt dabei fühlt, wenn die russischen Soldaten die hageren Menschen mit den leeren Blicken in ihre Freiheit gehen, ach was, stolpern lassen, so entkräftet sind die Häftlinge in ihrer Streifenkleidung, wie im Fall von DIE ATEMPAUSE, dem Film von Francesco Rosi aus dem Jahr 1997, wo wir der Befreiung zusehen und wie der junge Primo, ein italienischer Chemiker, seine Beine in die Hand nimmt und läuft und läuft, ins Ungewisse, gewiß, aber auf jeden Fall in die Freiheit. Es ist hinreißend, wie das ernste Thema seine komischen Seiten hat, das muß man sich mal vorstellen, zu Fuß von Polen nach Italien!

Der gleichnamige Spielfilm fußt auf dem zweiten Roman von Primo Levi, ein so wahrhaftiger Schriftsteller, der sowieso auch heute noch jedem zu empfehlen ist. Levi war im Februar 1944 mit 640 widerständigen Italienern von den Deutschen über den Brenner nach Auschwitz verschleppt worden. Die meisten wurden sofort umgebracht, ganze 95 wurden als Angekommene registriert – die Deutschen mit ihrer ‚ordentlichen Buchführung‘ über Menschenleben! Darunter auch Primo Levi, der etwas Deutsch kannte, was ihn wichtig machte. Außerdem hatte er Chemie studiert und wurde deshalb den dortigen Buna-Werken zugeteilt. Wir erleben mit ihm, wie man überlebt, wie man Techniken des Tauschs entwickelt, wie man die Lagerhierarchie aushebelt, sogar wie man die Selektion überlebt.

Wie es in Auschwitz zuging, hat derselbe Primo Levi in „Ist das ein Mensch?“ 1947 geschildert. Ein unheimliches Buch, weil es einerseits sehr anschaulich ist und auch die menschlichen Züge der Gefangenen und ihres Zusammenüberlebens aufzeigt, andererseits genau die Hölle zeigt, die die Vernichtungs- und Konzentrationslager waren. Damals sprach man noch nicht von Holocaust, dem Wort aus dem Englischen, das sich erst anläßlich der Fernsehserie um die FAMILIE WEISS im Februar 1978 nach und nach in Deutschland als Synonym für die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis einbürgerte. In der westlichen Welt sowieso.

Aber allein die Bücher und Filme, die es inzwischen zu den Lagern der Nazis gab, die buchstäblich jedes Jahr mehr werden. Man sprach lange von fast 1000 Konzentrationslagern, aber laut amerikanischen 13jährigen Forschungsarbeiten gab es von den ersten „Schutzhaftlagern“, die gleich 1933 eingerichtet wurden, und bis zum größten Ghetto, dem von Warschau, 42 500 Lager insgesamt. Bisher war auf deutscher Seite von 7 000 Lagern die Rede. Es ist gut, daß weitergeforscht und weitergeschrieben wird und verstärkt die Kinder die Geschichte ihrer Eltern oder schon die Enkelkinder die Geschichte der Familie erzählen. Erzählen kann nur, wer überlebt hat. Deshalb ist der 27. Januar zwar der Tag der Befreiung von Auschwitz und damit der Gedenktag aller Befreiten, aber eben auch der Gedenktag der Millionen Toten.

Wir hatten gerade von zwei Frauen berichtet, zwei Überlebenden, die deshalb ein völlig unterschiedliches Leben hatten, weil die eine eine Holocaustüberlebende ist und die andere rechtzeitig vor den Nazis nach Mittelamerika fliehen konnte und immer das gute Gefühl hatte, den Nazis eins ausgewischt zu haben:

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20773-weiterleben-ohne-wenn-und-aber-die-shoah-ueberlebende-giselle-cycowicz

https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20772-senora-gerta-wie-eine-wiener-juedin-auf-der-flucht-nach-panama-die-nazis-austrickste

Nun aber zum Buch der überlebenden Schwestern Janny und Lien, die zusammen mit den Schwestern Margot und Anne Frank zuletzt ins KZ Bergen-Belsen kamen, wo beide umkamen, während Janny und Lien überlebten. Die Autorin schrieb deren Geschichte des Widerstands auf, was 2018 in Holland herauskam und 2020 auf Deutsch erschien. Manche sagen, sie können es nicht mehr hören. Mir geht es gerade anders herum. Je älter ich werde, desto mehr interessieren mich die einzelnen Schicksale, es überwiegt die Freude, ja die Genugtuung, wenn sich eine oder einer retten konnte. Erst recht, wenn die Nazis ausgespielt wurden. Die Realität war gerade andersherum. Überlebende sind so was wie Paradiesvögel. Wie gut, wenn sie mit dem Überleben zurecht kamen. Denn vielen Überlebenden war die Frage, warum gerade sie überlebten, die Masse jedoch umgebracht wurde, ein Leben lang eine schwere Bürde.

Das ist wieder so eine Geschichte, wo man überzeugt wird, daß es Zufälle nicht gibt. Wie wäre es sonst anders möglich, daß ausgerechnet Roxane van Iperen, eine 1976 geborene Publizistin und Juristin 2012 das Haus – ein alte, abgelegene Villa im Wald, DAS HOHE NEST – kauft und mit ihrem Mann, „mit unseren drei kleinen Kindern, einem Altdeutschen Schäferhund und drei Katzen“ einzieht in einem Dorf, das die Nazis seit der Besetzung der Niederlande als Standquartier nutzten. Und nur Nazis zu sagen, ist zu wenig. Das Drama der Niederländer war, entgegen anderen besetzten Gebieten, aber durchaus auch im besetzten Frankreich geschehen, die Kumpanei Ortsangehöriger mit den Nazis. Zumal es in Holland auch die NSB-Anhänger gab: die Nationalsozialistische Partei in den Niederlanden. Wir werden Zeugen, wie in diesem Haus, als es aufwendig restauriert wird der holländische Widerstand gegen die holländischen und deutschen Nazis zu Hause war und die beiden Schwestern Lien und Janny Brilleslijper am jüdischen Widerstand beteiligt waren und in diesem Haus in doppelten Böden und Hohlräumen hinter den Wänden Juden vor den Nazis versteckt hatten und von hier aus den Widerstand in Holland organisierten. Allerdings flog das im Sommer 1944 durch Verrat auf und Janny und Lien wurden gefaßt und deportiert. Aber man konnte jetzt noch Zeugnisse des Versteckseins finden.

Das Buch ist ein lebendig geschilderter Sachbericht über die damaligen Geschehnisse, die zeitlich die Entwicklung gut wiedergeben, wobei sowohl die Besetzer wie auch die durch Hilfe für Verfolgte Widerständigen in ihrer Wechselwirkung gezeigt werden. Ganz konkret dann das Verstecken der Untergetauchten. Warum das die Autorin so lebendig berichten kann? Weil insbesondere Kinder, die damals gerettet wurden, ihr das Geschehen geschildert haben.

Wer nichts über den Zweiten Weltkrieg, bzw. die Besetzung Hollands durch die Deutschen wußte, erfährt hier den geschichtlichen Verlauf, der gleichzeitig für den, der das eigentlich weiß, keine unnütze Lektüre ist, weil Lokalkolorit das Geschehen in den Niederlanden bunt macht. Das gilt für das erste (Krieg) und zweite Kapitel (DAS HOHE NEST) , in letzterem wird der Widerstand dokumentiert. Für alle besonders interessant wird das dritte Kapitel, das mit ÜBERLEBEN dann den Verschleppten in den Osten folgt. Man liest genau, wie das war, als Menschen wie Vieh zusammengekarrt, eingepfercht und deportiert wurden. Sie kamen in verschiedene Lager und die Autorin versucht, in Worte zu fassen, was an Grausamem dort geschah.

Daß mit den beiden holländischen Schwestern auch die aus Frankfurt gekommene Familie Frank zusammenstieß, ist eine Volte der Geschichte. Ob sie stimmt, ist nicht ganz sicher. Bei den Quellen wird erwähnt, daß es zeitliche Differenzen der Fahrten und Aufenthalte gab, aber das ist dem dargestellten Geschehen nicht abträglich.

Vielleicht sollte man noch erwähnen, daß der Ton der Darstellung ein ziviler ist, eben eher ein Sachbuch, schildert, als eine dramatische Tonlage. Eine, die dem Grauen angemessen wäre, gibt es sowieso nicht.

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Info:
Roxane van Iperen, Ein Versteck unter Feinden. Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand. Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek, Hoffmann und Campe Verlag 2020
ISBN 978 3 455 00645 2