Claassen 2003jpgDer überbordende Erzähler Albert Vigoleis Thelen

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – „Seit langem glaube ich: Das größte Buch dieses Jahrhunderts ist »Die Insel des zweiten Gesichts« von Albert Vigoleis Thelen.

So urteilte der niederländische Schriftsteller Maarten ’t Hart 1999 in der „ZEIT“ über das bekannteste Buch seines Kollegen, der die deutsche Sprache in genuiner Weise um Ausdrücke bereichert hat, wie man sie sonst nur in den Werken von Grimmelshausen, Thomas Mann, Heimito von Doderer oder Günter Grass liest.

Albert (Vigoleis) Thelen wurde am 28. September 1903 in Süchteln am Niederrhein geboren und starb am 9. April 1989 in Dülken; beide Orte zählen heute zur Stadt Viersen. Sein zweiter Vorname, den er sich selbst zulegte, ist eine Reverenz vor dem Roman Wigalois, den der mittelhochdeutsche Dichter Wirnt von Grafenberg um 1220 geschrieben hat. Der fiktive Wigalois ist Gast der Tafelrunde des legendären Königs Artus.

Thelen studierte ab 1924 Germanistik, Philosophie, Kunst- und Zeitungsgeschichte in Köln und Münster. 1931 zog er mit seiner späteren Ehefrau Beatrice Bruckner in die Niederlande, blieb dort aber nur kurz und siedelte im selben Jahr über nach Mallorca. Unter dem Pseudonym Leopold Fabrizius verfasste er Beiträge über deutsche Exilliteratur für eine niederländische Zeitschrift. Der Sieg Francos über die Zweite spanische Republik im April 1939 zwang ihn zur Flucht. Über Frankreich und die Schweiz gelangte er nach Portugal. Im Anwesen des Dichters Teixeira de Pascoaes lebte er bis 1947. Während dieser Zeit übersetzte er einen Teil der Werke seines Gastgebers ins Deutsche und ins Niederländische.

1947 kehrte er in die Niederlande zurück und arbeitete dort an seinem ersten Roman, der 1953 in Amsterdam erschien und zu seinem bekanntesten werden sollte, der „Insel des zweiten Gesichts“. Dafür erhielt er 1954 den Fontane-Preis. Bei der „Gruppe 47“ hingegen stieß er mit dieser Erzählung auf wenig Resonanz. Der Sprachjongleur fand offensichtlich nicht die Tonlage, um bei der neuen literarischen Elite mitsprechen zu können. Zwischen 1954 und 1985 lebte Thelen in der Schweiz, wo sowohl mehrere Gedichtbände („Vigolotria“, „Der Tragelaph“, „Im Gläs der Worte“) als auch sein zweiter umfangreicher Roman entstand, der den Titel „Der schwarze Herr Bahßetup“ trägt und 1956 erschien, aber bei Kritik und Leserschaft weniger Anklang fand. Das änderte sich erst nach seinem Tod, als die deutsche Literaturzeitschrift „die horen“ zur Neuentdeckung Thelens maßgeblich beitrug. Ähnlich erging es auch dem Fragment gebliebenen Roman „Der magische Rand. Eine abtriftige Geschichte“, mit dessen Niederschrift Thelen bereits 1960 begonnen hatte, ihn aber nie vollendete. Thelen kehrte erst 1985 nach Deutschland zurück.

Werfen wir also einen Blick in „Die Insel des zweiten Gesichts“: Das umfangreiche Werk schildert weitschweifig und sprachschöpferisch die Erlebnisse des deutschschweizerischen Schriftstellerpaars Vigoleis und Beatrice auf der Insel Mallorca in den Jahren von 1931 bis 1936.
  
Ein Telegramm von Beatrices Bruder Zwingli hat die beiden nach Palma gerufen; sie erwarten, Zwingli als todkranken Mann vorzufinden, müssen aber entdecken, dass er einzig an der fast bis zur Hörigkeit gehenden Liebe zu der schönen Mallorquinerin Maria del Pilar erkrankt ist. Vigoleis, der für ihre Reize ebenfalls nicht unempfänglich ist, durchschaut die Verführerin rasch: Sie ist eine Prostituierte. Zwingli lässt sich seine Leidenschaft etwas kosten und verschuldet sich. Beatrice begleicht großzügig, aber ohne über ihre und Vigoleis Lage nachzudenken, seine Schulden. Das hat den finanziellen Ruin des Paars zur Folge.
Beide verlassen das Haus des unwirtlichen Gastgebers und ziehen in eine Pension, wo sich ein Hauptmann von Martersteig, »der auch schreibt«, und die ehemalige Burgschauspielerin Gerstenberg leben. Der Kreis der seltsamen Gestalten, deren Bekanntschaft das Paar auf der Insel macht, wird allmählich immer größer.

Seine angespannte finanzielle Lage zwingt das Paar zum erneuten Ortswechsel. Sie ziehen nach Torre del Reloy außerhalb von Palma, wo sie in einer Scheune hausen, die auch das Domizil mehrerer Abgehängter ist. Es wird die härteste Zeit ihres Inselaufenthalts. Hunger und Ratten sind ihre ständigen Begleiter, häufig sind sie der Verzweiflung nahe. Aufmunterung erfahren sie lediglich durch das heitere und oberflächlich sorglose Treiben ihrer Nachbarn, der Huren und Schmuggler. Doch auch diese Misere geht zu Ende. Im ehemaligen Palast eines Generals finden sie eine neue und bessere Unterkunft. Vigoleis wird bald einer der gesuchtesten Fremdenführer der Insel und beginnt mit der Übersetzung von Teixeira de Pascoaes Texten. Beatrice verdingt sich als Sprachlehrerin. Erneut ist es ihnen möglich, die Bekanntschaft interessanter Personen und Persönlichkeiten zu machen.

Inzwischen sind in Deutschland die Nazis an die Macht gekommen, und Vigoleis hat zunehmende Schwierigkeiten mit dem deutschen Konsul in Mallorca, weil er einigen geflüchteten Juden hilft. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbricht, wird die Insel für das Paar zur Hölle; mit knapper Not flüchten sie sich auf den englischen Zerstörer Grenville, der sie in einen nichtfaschistischen Staat, in die Freiheit, bringen soll.

Der Roman beginnt mit einer „Weisung an den Leser“, die durchaus als Warnung verstanden werden kann:

„Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewusstsein ihrer Persönlichkeit auf, der Verfasser einbegriffen, weshalb sie weder für ihre Handlungen noch auch für die im Leser sich erzeugenden Vorstellungen haftbar gemacht werden können. Im gleichen Maße, wie die Spaltung der ichverlorenen Gestalten größer oder kleiner zu sein scheint, unterliegt auch der chronologische Ablauf der Geschehnisse einer Umschichtung, die bis in die Aufhebung des Zeitgefühls gehen kann.

In Zweifelfällen entscheidet die Wahrheit.“

Thelens Roman ist derzeit als Taschenbuchausgabe im Ullstein Verlag lieferbar.

Foto:
Umschlagbild der gebundenen Ausgabe von 2003, erschienen bei Claassen.
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