Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sehr interessant, wenn man einen dystopischen Roman, geschrieben 2015, dem die deutschen Rezensionen 2018 einen bestimmten Adressanten zuschrieben, nun im Februar 2021 liest, aber auf einmal an jemand ganz anderen denken muß, eine Anspielung auf einen anderen Adressaten, der zudem sozusagen das Gegenteil des ersten Adressaten ist.
Die Rede ist von TROLL, einem Roman über das demokratie- und menschenzerstörende Unwesen, zu dem die sogenannten sozialen Medien permutieren können – und zwar um so leichter, sobald das einer mit Geld in der Hand in einer doch angeblich freien Online-Community mittels zentraler industrieller Fertigung von Blogs tut und entsprechend den Möglichkeiten der konkreten Plattform im virtuellen Raum den Eindruck erweckt, hier würden viele einzelne miteinander kommunizieren. Dabei sitzen sie in der Fabrik und werfen sich in Absprache virtuell die Bälle, sprich die Verleumdungen, die Wut, den Hass und die Lügen im Internet als Fake-News zu.
Wie das geschieht, wer die Personen sind und wie es ausgeht, das schildern wir noch. Aber das Erstaunliche ist eben, daß man das ganze satte, spannende, 213 Seiten lange Buch mit anderen Augen liest, als es die deutschen Rezensenten – die slowakischen und tschechischen und russischen kennen wir nicht – im Jahr des hiesigen Erscheinens 2018 taten. Alex Rühle z.B. erkannte, wie sehr der Roman von der Wirklichkeit eingeholt ist. Er erkennt im Text die Despoten und Diktatoren wie Robert Fico und Ceausescu und Putins Rußland und hält die ausgiebig beschriebene Trolls in Ländern wie der Slowakei längst für traurige Wirklichkeit.
Nach dem Sturm auf das Kapitol zur Verhinderung des demokratisch gewählten neuen Präsidenten Biden durch diejenigen, die Wahrheit zur Fälschung und Betrug umlügen und im Internet zum Marsch aufs Kapitol aufgerufen haben, erkennt man in diesen im Roman beschriebenen Trolls immer die Typen mit dem nackten Oberkörper und der Fellmütze sowie dem Speer oder all die anderen Charaktermasken, die sich als harmlose aufgebrachte Bürger geben. Nach dem Sturm auf das Kapitol liest sich der Roman eben auch nicht mehr als Dystopie, auch nicht als Scherz, Satire, Ironie, aber auf jeden Fall mit tieferer Bedeutung! Als Wahrheit, was kommen kann, wenn das so weiter geht mit den sozialen Netzwerken, wenn sie von einer Internetmafia kontrolliert, bzw. überhaupt erst installiert werden.
Gleichzeitig hat ja Goethe immer recht, „Warum in die Ferne schweifen...“, sieh das Ungute ist so nah! Man braucht nur an die Coronaleugner denken, an die Demos der sogenannten Querdenker, unverantwortlich ohne Masken, die sich übers Internet ihre eigene Welt zurechtbasteln und dann angeblich als ungesteuert ihre persönliche Meinung posten. Wir sind umstellt, noch einmal, von industriell gefertigter Meinung.
Die Geschichte:
Der ungenannte Icherzähler ist ein armes Schwein. Aufgewachsen in der Stadt Kúkav in einer Diktatur geht sein Vater mit dem geliebten älteren Bruder stiften, er bleibt mit der krank gewordenen Mutter zurück. Er kompensiert sein Unglück mit Essen; krank ist er auch, eine Krankheit nach der anderen (siehe PS). Er kommt ins Krankenhaus, wo er weiter zunimmt und nach fünf Jahren als menschlicher, körperlicher und mentaler Krüppel herauskommt in ein neues Land, das nur noch eine Halbdiktatur ist. Allerdings hat er eine platonische Gefährtin, denn mit Johanna, die drogensüchtig in die Klinik kam, schloß er den Lebenspakt. Sie wird clean und er nimmt ab. Das hat Johanna geschafft. Er nicht. Sie wollen die Welt erobern, auch verändern.
Erst einmal ist sie der clevere IT-Freak und er ihr Schüler. Aber er lernt schnell, holt auch fast nebenbei den Schulstoff und vor allem die Schul- und Hochschulabschlüsse mit Auszeichnung nach, ist perfekt in Russisch, sehr gut in Englisch und Beherrscher der jeweiligen Literatur. Beide heuern beim mächtigsten Verbreiter von Meinungen an, einer Art Agentur, die der smarte Valys vertritt. Der will eigentlich nur die schlagfertige Johanna nehmen, aber sie sind nur im Doppelpack zu haben. Eigentlich sind sie dorthin - ins Reich der Trolls, derer, die die Wirklichkeit durch virtuell gelenkte Information und Fake News fälschen - gegangen, um im Rachen des Feindes dessen Mechanismen zu erlernen. Und jetzt erleben wir einen Rausch, der vergleichbar ist – schon wieder Goethe – mit dem Zauberlehrling, der den Besen nicht mehr beherrscht:
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.
Wie Autor Michal Hvorecky den unaufhaltsamen Niedergang des auktorialen Erzählers beschreibt, wie er zum Werkzeug wird, der sich für den Meister hielt, ist so meisterhaft wie unangenehm. Wir kennen die slowakische Literaturszene zu wenig, glauben aber sofort, daß Hvorecky der meistgelesene und beliebteste Schriftsteller der Slowakei ist, der hier im Roman auch Václav Havel ehrt. Und noch sehr viele andere, hauptsächlich russische Schriftsteller wie Dostojewski, wie Solschenizyn...
Und das wurde mir beim Lesen das Wichtigste, all die vielen sehr langen Zitate, die den Kapiteln vornan stehen. Endlich wieder die osteuropäische literarische und intellektuelle Welt, von der heute in unseren Tagen hierzulande kaum mehr einer redet. Was mich dabei wundert, das ist, daß ich mit der russischen, der polnischen, der tschechischen Literatur aufwuchs, obwohl damals der nackte Antikommunismus in Westdeutschland herrschte. Und heute?
Und noch etwas, worüber ich zu wenig weiß, aber was mir gerade auffiel. Genauso wie in TROLL halb- und ganzseitige Zitate vorneweg gestellt sind, geschieht dies in der selben Manier in DIE RESIDENTUR seiner tschechischen Kollegin Iva Procházková, einem hervorragenden Kriminalroman, der gerade erschien, den wir noch rezensieren müssen.
P.S. I Noch etwas Erstaunliches, das den Roman ngenauso aktuell macht. Das ganze Unglück des Ich-Erzählers begann, als seine Mutter, eine ausgemachte Impfgegnerin, ihm die notwendigen Impfungen gegen Kinderkrankheiten versagte, mit der Folge, daß er sie alle bekam und darob keine Kindheit und Jugend hatte, sondern nur Krankenlager.
P.S.II Eigentlich hatte ich auch auf den Begriff Dystopie eingehen wollen, nicht formal, sondern auf den 'alten' Roman 1984 von George Orwell verweisen wollen, den ich sofort wieder herausholen werde und neu lesen und auch neu besprechen will, denn mir scheint, daß alle diese Themen heute sehr viel aktueller sind als in den Endjahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Foto:
Cover
Info:
Michal Hvorecky, Troll, Tropen Verlag 2018
ISBN978 3 608 50411 8
werd ich nun nicht los.
Wie Autor Michal Hvorecky den unaufhaltsamen Niedergang des auktorialen Erzählers beschreibt, wie er zum Werkzeug wird, der sich für den Meister hielt, ist so meisterhaft wie unangenehm. Wir kennen die slowakische Literaturszene zu wenig, glauben aber sofort, daß Hvorecky der meistgelesene und beliebteste Schriftsteller der Slowakei ist, der hier im Roman auch Václav Havel ehrt. Und noch sehr viele andere, hauptsächlich russische Schriftsteller wie Dostojewski, wie Solschenizyn...
Und das wurde mir beim Lesen das Wichtigste, all die vielen sehr langen Zitate, die den Kapiteln vornan stehen. Endlich wieder die osteuropäische literarische und intellektuelle Welt, von der heute in unseren Tagen hierzulande kaum mehr einer redet. Was mich dabei wundert, das ist, daß ich mit der russischen, der polnischen, der tschechischen Literatur aufwuchs, obwohl damals der nackte Antikommunismus in Westdeutschland herrschte. Und heute?
Und noch etwas, worüber ich zu wenig weiß, aber was mir gerade auffiel. Genauso wie in TROLL halb- und ganzseitige Zitate vorneweg gestellt sind, geschieht dies in der selben Manier in DIE RESIDENTUR seiner tschechischen Kollegin Iva Procházková, einem hervorragenden Kriminalroman, der gerade erschien, den wir noch rezensieren müssen.
P.S. I Noch etwas Erstaunliches, das den Roman ngenauso aktuell macht. Das ganze Unglück des Ich-Erzählers begann, als seine Mutter, eine ausgemachte Impfgegnerin, ihm die notwendigen Impfungen gegen Kinderkrankheiten versagte, mit der Folge, daß er sie alle bekam und darob keine Kindheit und Jugend hatte, sondern nur Krankenlager.
P.S.II Eigentlich hatte ich auch auf den Begriff Dystopie eingehen wollen, nicht formal, sondern auf den 'alten' Roman 1984 von George Orwell verweisen wollen, den ich sofort wieder herausholen werde und neu lesen und auch neu besprechen will, denn mir scheint, daß alle diese Themen heute sehr viel aktueller sind als in den Endjahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Foto:
Cover
Info:
Michal Hvorecky, Troll, Tropen Verlag 2018
ISBN978 3 608 50411 8