TABU von Ferdinand von Schirach aus dem Verlag Piper

 

Claudia Schulmerich

 

München (Weltexpresso) – Tja, was ist denn nun der Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, auf dem der erst spät in der Geschichte des - des Mordes angeklagte - Sebastian von Eschburg auftretende Anwalt Konrad Biegler beharrt? Wahrheit und Wirklichkeit auf jeden Fall ist es, daß derzeit die TV-Serie VERBRECHEN mit den Geschichten des Autors von Schirach die asiatische Fernsehwelt erobert.

 

Zwar ist der ZDF-Mehrteiler nur von einem taiwanesischen Sender, den Öffentlich-Rechtlichen entsprechenden hierzulande, gekauft worden, aber der Kauf einer deutschsprachigen Dramaserie geschieht zum ersten Mal, zumal ist Taiwan das Sprungbrett nach China. Uns freut das, denn wir fanden die bisherigen Bücher des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach außerordentlich spannend und lehrreich auch. Gerade und vor allem in DER FALL COLLINI legte der Autor nicht nur eine verstörende individuelle Biographie vor, sondern bettete diesen Fall Collini in eine der schärfsten Gemeinheiten bundesrepublikanischer Gesetzgebung, von der die meisten noch nie gehört hatten und die man danach nie wieder vergißt: den Fall Dreher.

 

Diesem Verbrecher gelang es 1969, als die Debatte um und auch die Prozesse gegen die Schandtaten der Nazis in der Bundesrepublik erst so richtig in Fahrt gekommen waren, in ein Gesetz eine quasi Generalamnestie der Naziverbrechen an Menschen hineinzuschreiben, demnach alle die Morde, die von ganz oben – Hitler, Göring, Himmler - befohlen wurden, von den tatsächlichen Mördern nur als Mordgehilfen spricht, von Totschlägern, deren Taten dann aber 1969 schon verjährt waren, weshalb sie nie zu Gericht kamen oder mit Freispruch endeten. Das Gesetz hieß übrigens EINFÜHRUNGSGESETZ zum ORDNUNGSWIDRIGKEITENGESETZ, was keinen Abgeordneten interessierte, weshalb es den Bundestag ohne Aussprache passierte.

Wie so etwas möglich ist. Ganz einfach. Dieser Verbrecher Eduard Dreher war Leiter der Strafrechtsabteilung im Justizministerium. Daß er ein bekannter Strafrechtskommentator war, darf sein, daß er aber selbst im Dritten Reich am Sondergericht Innsbruck bei kleinen Lebensmitteldiebstählen für die Todesstrafe eintrat, das darf nicht sein, war aber für die Justiz in Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik schon fast typisch.

 

Was das mit dem neuen Buch zu tun hat? Sehr viel, denn wir empfehlen den potentiellen Lesern die bisherigen Bücher des Ferdinand von Schirach – VERBRECHEN, SCHULD und DER FALL COLLINI, doch sehr viel mehr, als das neue TABU. Das mußte raus, denn wir taten uns mit TABU etwas schwer. Das aber liegt an der blassen, weil blutleeren Hauptfigur des Sebastian von Eschburg, der erst einmal alle unsere Sympathien gewinnt, wenn wir von seiner Kindheit und Jugend lesen und davon, wie sich der Vater umbringt und der Sohn ab da haltlos durchs Leben taumelt, dem er sich eigentlich entzieht, dessen Mechanismen von Erfolg er aber intuitiv begreift und als Künstler wahrmacht und pekuniär abräumt.

 

Daß Ferdinand von Schirach ein richtiger Kunstkenner ist, wußten wir zuvor nicht. Auf jeden Fall begleiten dies Buch von Beginn an wichtige Kapitel aus der Kunstgeschichte. Schon auf der ersten Seite heißt es: „Daguerre hatte die Fotografie erfunden.“, weil wir an einem hellen Frühlingstag des Jahres 1838 Zeuge werden, wie er durch ein Loch Licht auf jodierte Silberplatten fallen läßt – lang genug, damit danach die vagen Abbildungen von Pferd und Spaziergänger zu sehen sind. Ähnlich vage sind am Schluß die Verdachtsmomente gegen den bis dahin anerkannten Künstler, er habe sein Modell oder seine Freundin, auf jeden Fall eine junge Frau ermordet, die mit einem Hilferuf aus dem Kofferraum des Sebastian die Polizei anrief und deren blutgetränkte Kleider nebst Sado-Maso-Folterwerkzeugen man beim Künstler fand.

 

Der Autor läßt den Leser bis dahin mit weiteren Erklärungen zur Tat oder dem potentiellen Täter allein. Wir sind dem Jungen mitleidig ins Bayerische beim Verkauf des Elternhauses gefolgt, haben die ebenfalls merkwürdig vage bleibende Mutter und dann noch mit neuem Mann, einem Unsympathling, erlebt, endlich dann eine Frau namens Sofia, die das Heft des Handelns in die Hand nimmt, was sie berufsbedingt als Agentin großer Konzerne eh kann. An ihrer Seite wird aus dem Fotografen Sebastian ein berühmter und wohlhabender Künstler, dessen Fotografien sich zu Installationen ausweiten. Schnitt.

 

Jetzt sitzt Sebastian von Eschburg als potentieller Mörder in der Zelle. Und erst auf Seite

149 von insgesamt 254 Seiten tritt mit Anwalt Konrad Biegler ein lebendiger Mann auf, ein Mensch von Blut und Gefühlen, fast ein wenig als typische Genrefigur überzeichnet, der sich eigentlich auf dem Land Regenerieren soll, der aber die Übernahme des Mordfalls von Eschburg gerne nutzt, um das Gesunde zu lassen und sich weiterhin mit Süßem und anderen Körpergefährdungen gegen die Trostlosigkeit deutscher Strafverfahren zu wappnen und diese mit Hilfe des Angeklagten auszuhebeln, mit einem Wort: zu gewinnen, was angesichts dessen, was vorlag und daß noch nicht einmal eine Leiche da war, nicht schwierig war. Nur verdreht und aus den biographischen Ritzen geholt, mehr darf man hier nicht verraten.

 

Was man aber gerne verraten will, ist das Anhäufen von Bildungswissen zur Kunst, was unsereinen großen Spaß machte, denn normalerweise kennen sich deutsche Romanautoren besser mit Weinsorten denn Künstlern aus. Von Schirach, dessen Sebastian in der Alten Nationalgalerie in Berlin sich im zweiten Stock Caspar David Friedrichs MÖNCH AM MEER anschaut und sich schaut, schreibt so häufig und beiläufig über Werke der Kunstgeschichte, wie die beiden Majas des Goya, die zu Sebastians Inspiration werden, der am Schluß auf die Frage Bieglers: „Aber warum haben Sie das eigentlich inszeniert? Es hätte schiefgehen können...Wozu dieser wahnsinnig Aufwand? Für Ihre Schwester? Für die Kunst? Die Wahrheit?, antwortet: „Tizians Augen wurden am Ende seines Lebens immer schlechter. Er malte seine letzten Bilder mit den Fingern.“

 

Er ertrug nichts mehr zwischen sich und den Bildern. Tizian malte mit sich selbst.“, versteht nicht nur Biegler nicht so recht, zumal von Schirach hier in Sebastians Namen den späten Tizian doch ungehörig interpretiert, wenn er seine Fingermalerei erwähnt und vom Schrundigen, vom Aufgeschürftsein und Unvollendeten, dem Begriff des Indefinito, schweigt. Sie merken schon, gerne gelesen haben wir das Buch auf jeden Fall. Dieser Sebastian von Eschburg kommt nur etwas verstiegen daher.

 

INFO:

 

PTS Taiwan (Public Television Service Foundation) ist eine von fünf frei empfangbaren Fernsehstationen Taiwans und vergleichbar mit den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland. Aufgrund seiner geographischen, sprachlichen und inhaltlichen Nähe zum chinesischen Markt ist der taiwanesische Fernsehmarkt eines der interessantesten Territorien in Asien. ZDF Enterprises verhandelte den Abschluss.

 

"Verbrechen" basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Ferdinand von Schirach und zeichnet sich durch eine moderne und innovative Bildsprache aus, die in der Presse und Öffentlichkeit sehr viel positive Resonanz gefunden hat. Die als Doppelfolgen ausgestrahlten sechs Folgen lockten im ZDF durchschnittlich mehr als drei Millionen Zuschauer vor den Bildschirm. Josef Bierbichler glänzt dabei in der Hauptrolle des Anwalts Leonhardt. Inszeniert wurde "Verbrechen" von Hannu Salonen und Jobst Oetzmann, der auch gemeinsam mit Nina Grosse und André Georgi die Drehbücher schrieb.