LEBENAuf die Schnelle: Gute Informationsliteratur, gebraucht, Teil 65

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der folgende Roman gehört zu den seltsamsten Leseerlebnissen meines Lebens, weil er mich durch alles nur denkbare Gefühlserleben schleuderte, anders kann ich das nicht ausdrücken. Noch dazu habe ich ihn nicht ‚gelesen‘, sondern gehört! Was bei diesem emotional aufwühlenden Buch sicher den Effekt verstärkt. Aber auch die Unzufriedenheit.

EIN WENIG LEBEN von Hanya Yanagiharas

Es fängt so richtig wie ein zeitgenössischer fortschrittlicher US-Roman aus dem Bilderbuch an. Junge Leute. Klar. Alle guter Dinge. Sie sind zu viert, diese insgesamt liebevoll geschilderten jungen Männer, die alle in einer Wohngemeinschaft die Freundschaft aus dem College fortsetzen. Das meiste erfahren wir in unaufhörlichen Rückblenden, die wohl viele Seiten des Buches ausmachen. Beim Hören wird dies durchaus deutlich. Jetzt zum Beispiel ist die WG schon vorbei, aber die Freundschaft hat gehalten und jedes Jahr treffen sich die vier Freunde zu einem gemeinsamen Abendessen, wie jetzt, und erzählen sich, wie toll ihr Leben verläuft, nur Superlative, und wie sehr sie einander verbunden sind.

Nein, das ist nicht unsympathisch, es ist einem eher zu sympathisch, wie toll diese jungen, schönen, erfolgreichen Männer sind, die irgendwie auch noch idealtypisch den Schmelztiegel der USA in der Weltstadt New York darstellen: ein Schwarzer, Malcolm, der ein Stararchitekt wird, ein Brauner mit haitianischen Wurzeln J.B., der ein berühmter Künstler wird, der Dritte - Willem - ist ein Blonder, ein Bild von einem Mann, kommt familiär aus Norwegen, wird von Hollywood entdeckt und macht Karriere als Schauspieler und der Vierte – Jude St. Francis, wird zunehmen den Roman bestimmen, wird also zur Hauptperson, ohne daß ich mitbekommen hätte, welchem Teil der Bevölkerung er entstammt. Irgendwie denkt man, er sei schwarz, aber dafür gibt es dann auch keine Anhaltspunkte, auf jeden Fall kann man nicht auf die Eltern bauen, denn die sind unbekannt. Er wurde ausgesetzt, von Mönchen gefunden und wuchs in einem Kloster auf, was aber im Gegensatz zur Annahme, daß ihm die Rettung ein gutes Leben versprach, zur Hölle wurde. Doch davon später.

Idealtypisch sind auch die unterschiedlichen sexuellen Präferenzen, mindestens fünf, der Freundesgruppe aufgereiht, die im Roman dann doch einen sehr großen Anteil einnehmen, bzw. den Roten Faden bilden. Idealtypisch ist allerdings nicht ganz richtig, wenn man es statistisch meint. Denn die Homosexualität überwiegt. Die Freunde haben zudem alle finanziell ein gutes Auskommen, ach was, sie sind mehr als wohlhabend, sie sind oder werden reich, sehr reich. Das ist ein Wohlleben von vier wohlgeratenen jungen Männern, empfindet die Leserin, das wohl so aufgebaut wird, damit deutlich wird, Geld ist nicht alles, es geht um mehr und um anderes. Das kann man natürlich gut sagen, wenn genug Geld da ist. Aber es bleibt ab irgendwann unglaubwürdig, wieviel Geld die Vier wert sind.

Das schreiben wir dann schon mit dem Wissen um das Weitergelesene. Denn erst einmal ist man froh, daß nicht wieder alles den sozialen Verhältnissen geschuldet sehr trist verläuft, sondern diese klugen, erfolgreichen, unabhängigen, attraktiven Typen sich gegenseitig ihrer aufregender Leben versichern. Doch in den Gesprächen zwischen den einzelnen und aus dem Hintergrundwissen der Autorin erfahren wir doch mehr von der Rückseite der gepriesenen Schokoladenseite. So hatte Willem, einen kleinen Bruder, krank und geistig behindert, weshalb er die Liebe und den Schutz durch Willem besonders brauchte, dieser ihn aber nicht vor dem Tod retten konnte. Er hat also einen Beschützerinstinkt, den er nachher noch gut brauchen kann. J.B. hat mit Drogen zu tun, Malcom hat auch ein Problem, denn – das gefällt einem dann einmal als nicht-typisch, nicht-klassisch – er hat zu reiche Eltern, er schämt sich für den Wohlstand und will es alleine schaffen.

Der Hintergrund dieser drei Freunde wird jeweils durch Rückblenden oder eigene Erzählungen für die Leserin transparent. Und vom Vierten hörte man bisher zu wenig. Jude ist Jura-Student und auffällig gehbehindert, was er aber nicht von Geburt an war, darüber aber schweigt wie über alles, was seine Kindheit und Jugend angeht, von der man nur weiß, daß er im Kloster von Mönchen großgezogen worden ist. Er ist einerseits von den Vieren der einzige, der nicht reich geboren, sich alles – denn er wird reich – hart erarbeitet hat, hart, weil er durchaus 18 Stunden täglich als Staranwalt in einer Starkanzlei Teilhaber wird, aber er ist auch derjenige, den die drei anderen am liebsten haben, ja ihn lieben.

Nachdem die drei Ersteren durch Eingehen auf ihr Leben im Roman ‚abgearbeitet‘ wurden, widmet sich der Roman nur noch Jude. Wir Leser erfahren zwischendrinnen, was das wirklich schwarze Geheimnis um ihn ist, warum er gehbehindert ist und die Behinderung sich verstärkt, so daß er sich nur noch im Rollstuhl bewegen kann. Er ist ein kindliches, dann juveniles Mißbrauchsopfer durch einige Mönche im Kloster, was er aber als gottgegeben hinnimmt, er kennt es nicht anders und natürlich baut sich zu einigen auch Wärme auf, besonders einer nimmt sich seiner an und schmiedet einen Fluchtplan, der aufgeht.

Dieses Kapitel kommt unvermutet und wird so grauenhaft vom Inhalt her, daß sich das Zuhören zur Qual gestaltet. Denn der Mönch, der dem Jungen eine Zukunft in einem schönen Haus verspricht, ‚vermietet‘ ihn an andere Männer, hauptsächlich Fernfahrer etc. Es ist so furchtbar, was man da hört, weil das Allergemeinste eben die emotionale Bindung ist, die der Mönch zum elternlosen Kind aufgebaut hatte und diese Bindung benutzt er nun, um das arme Kind, den armen Jungen bei der Stange zu halten.

Bis dieser ausreißt und dem nächsten Schänder in die Hände fällt. Nein, man hält es kaum aus, dabei kommt alles noch schlimmer, er wird gefangengehalten in einem Haus, das einsam auf weitem Land steht. Minutiös wird das Verbrechen an ihm beschrieben, auch wie er sich unter Zuhilfenahme seines Verstandes befreien kann, losläuft und läuft und läuft...doch dann vom Verfolger mit dem Auto überfahren wird. Das also ist die Ursache seiner kaputten Beine, was später im Roman noch eine große Rolle spielen wird und zur Amputation eines Unterschenkels führt, nachdem er schon durch Nichtessen fast verhungert wäre, von den tiefen Schnitten, die er sich seit Jahren selber zufügt, ganz abgesehen.

FORTSETZUNG FOLGT

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Info:
Hanya Yanagihara, Ein wenig Leben, aus dem Englischen von Stephan Kleiner, gekürzte Lesung, gelesen von Torben Kessler, 4 mp3-CDs, Laufzeit 2 028 Minuten, Hörbuch Hamburg
ISBN 978 3 95713 077 8
Das Buch erschien im Carl Hanser Verlag