Auf die Schnelle: Gute Unterhaltungsliteratur, gebraucht, Teil 68
Hanno Lustig
Köln (Weltexpresso) – Am 24. März wird Martin Walser 94 Jahre und seine letzte Neuausgabe war MÄDCHENLEBEN, nach einem erstaunlich produktiven Schriftstellerleben, das zu seinem 90. Geburtstag in einer Gesamtausgabe in 25 Bänden erneut dokumentiert wurde, eine sehr schöne Ausgabe, die man nur dann nicht kauft, wenn man eh seine Werke zu Hause stehen hat und alle gelesen hatte! Jahr für Jahr, also ca. 11 450 Seiten, wie die Gesamtausgabe ausweist. Die Kraft der Liebe ist sein schriftstellerisches Lebensthema, das gilt auch für Léon und Louise von Alex Capus, dem 1961 geborenen Schweizer Schriftsteller.
MÄDCHENLEBEN oder die Heiligsprechung. Legende von Martin Walser
"Zu gestehen habe ich, dass ich nach diesem Mädchen eine Sehnsucht habe wie nach nichts sonst. Wenn ich sie nicht mehr sehe, nicht mehr finde, hat das Leben für mich keinen Sinn mehr. Wenn die Welt nicht so ist, dass sie darin leben kann, dann ist diese Welt unbewohnbar für mich." Ein starker Satz, den der Mann von sich gibt, der gleich in der ersten Zeile davon spricht, daß er spürt, daß man ihn verdächtigt, weil das Mädchen verschwunden ist, weshalb er auch selbst rasch verschwindet und oben auf der Berghütte, das Leben dieses Mädchens niederschreibt. Was für ein Mädchen? Sie heißt Sirte, was ja nach Sirren klingt, einem lautmalerischen Wort, aber auch nach Sirene, was eher semantisch zutreffend ist.
Sirte ist die Tochter seiner Mieter oder sollte man umgekehrt sagen, der Lehrer Anton Schweiger ist nur deshalb Untermieter bei Familie Zürn geworden, wegen Sirte. Aber nun ist sie weg. Einfach verschwunden. Dann ist sie wieder da. Ein selbstbestimmtes Mädchen, eigentlich sehr modern, denn sie tut, was sie will. Oder ist es eine höhere Macht, die sie bewegt? Sie gräbt sich in den Sand ein, stürmt bei Sturm in den See und noch so viele Sachen findet er über Sirte heraus. Ihr Vater will sie heiligsprechen lassen. Warum? Anton findet Gründe.
Wir müssen erst einmal die Familie verstehen, Frau und Mann Zürn, die seltsam miteinander umgehen. Leicht, einschmeichelnd und zunehmend fasziniert lassen wir uns von Walser in die Suche und die Bedeutung von Sirte einbinden. Wenn man dann liest, das er schon vor 60 Jahren in seinen Tagebüchern von diesem MÄDCHENLEBEN schreibt, was er dann 58 Jahre später zu Papier bringt, entsteht nicht nur eine Akzeptanz, über Sirte mehr zu hören, sondern auch gegenüber Martin Walser, der im Banne junger Mädchenblüte blieb.
LÉON UND LOUISE von Alex Capus
Das ist einer meiner Lieblingsromane, wenn es um Liebe geht. Denn wie kann sich Liebe stärker ausdrücken, als in der Tatsache, daß sie nach zartem Beginn nicht mehr stattfinden kann und dann, wenn es ginge, der eine schon verheiratet ist und Familie hat. Das Eigentliche dabei sind aber die Begleitumstände. Wir lernen nämlich Léon, übrigens den Großvater des Autors, Polizeichemiker am Quai des Orfèvres, kennen, als für ihn am 16. April 1986 die Totenmesse in Notre-Dame gelesen wird und seine vier Söhne und die Tochter in der ersten Reihe sitzen. Enke gibt es auch, aber die Gruppe ist in der großen Kathedrale klein. Doch da kommt eine kleine, graue Gestalt durch die Seitentür, eine alte Frau durch die Seitentür, die leicht kreischt,w weshalb alle sich umdrehen und sich gegenseitig wispernd fragen, wer ist denn das, gehört die zu uns, ist das vielleicht die...?
Doch die Weißhaarige läßt sich nicht beirren, geht nach vorne zum Sarg, nimmt den Hut mit Schleier ab, küßt den Toten auf die Stirn, hält ihre Wange an seine und legt eine alte Fahrradklingel neben seinen Kopf. Das ist der starke Beginn eines Romans, der nun natürlich vom Enkel Aufklärung verlangt, der er nachkommt.
Und das liest sich – und hört sich, weil wir beides unternahmen, erst hörten und dann noch einmal lesen wollten – einfach herzzerreißend an, denn es ist erst einmal jugendliche Liebe, was sich beim Fahrradfahren an der Atlantikküste verstärkt, was zwischen den beiden Jungen, Léon und Louise sich flirrend entwickelt. Doch es ist der erste Weltkrieg und bei einem Fliegerangriff verlieren sich die beiden und finden sich nicht wieder. Das ist schon tragisch. Aber erst recht tragisch empfinden beide, als sie sich zufällig im Jahr 1928 in Paris über den Weg laufen, tragisch, denn inzwischen ist Léon verheiratet und hat Kinder. Wie beide diese Situation dennoch nutzen, um ihre innere Verbundenheit wenigstens immer wieder auch leben zu lassen, ist hinreißend erzählt., was im Erscheinungsjahr auch dazu führte, daß dieser Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Info:
Martin Walser, Mädchenleben oder die Heiligsprechung. Legende, Rowohlt Verlag 2019
ISBN 978 3 498 00196 4
Alex Capus, Léon und Louise, Hanser Verlag 2011
ISBN 978 3 446 23630 1
Alex Capus, Léon und Louise, Hörbuch vom Hörverlag, gesprochen von Ulrich Noethen, Spieldauer 6 Stunden und 33 Minuten
Léon und Louise