Auf die Schnelle: Gute Literatur, gebraucht, Teil 83
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Zwei Romane, die wohl nur eins verbindet: Österreich! Wolf Haas, 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren, ist ein Kult-Österreicher, was sich besonders auf seine Kriminalromane um Simon Brenner bezieht, die er von 1996 und 2014 veröffentlichte. Und Ursula Krechel, 1947 in Trier, ist zwar Deutsche, aber wird vom Verlag Jung und Jung aus Salzburg verlegt, dem Verlag, der Deutsche Buchpreisträgerinnen hervorbringt, woran auch Ursula Krechel 2012 mit LANDGERICHT teil hatte.
JUNGER MANN von Wolf Haas
Das Thema paßt in die Fastenzeit, denn auf der Rückseite steht ein Zitat aus dem Buch, zusammen mit dem Foto einer Waage-Anzeige auf O: „Und so kam es, daß ich in neun Wochen fünfzehn Kilo verlor und meine Unschuld.“ Der Icherzähler ist ein 13jähriger Junge, der seine Probleme hat und deshalb in der Trostschokolade nämlichen findet, mit der Folge, daß er übergewichtig ist, wie man heute neutral sagt. Er selber weiß, daß er fett ist.
Und eh das weitergeht, der Hinweis, daß wir uns im Jahr 1973 befinden zu Zeiten der Ölkrise, als Wolf Haas auch 13 Jahre zählte. Und auch dick war. Aber mehr müssen wir nicht wissen, denn die Jugendgeschichte ist witzig erzählt, halt wie es die Art von Wolf Haas ist, der sich an manchen Wörtern begeistern kann und wir mit ihm. Der dicke Junge zählt 93 Kilo, als er sich an der Tankstelle als Aushilfe tätig in Elsa verliebt. Er sieht sie durch die Windschutzscheibe und es ist um ihn geschehen! Erste Tat: Abnehmen. Von 93 auf 78 Kilo ist das Ziel.
Aber den Mann von Elsa, den mag er eigentlich auch. Das ist Tscho und ein Lastwagenfahrer, der sogar bis nach Teheran fährt. Tscho hat nichts gegen die Verehrung seiner Elsa. Und auch nicht, daß der Junge, der so gerne erwachsen wäre, mit auf die Tour geht.
Ein im Stil von Wolf Haas spitzbübischer Roman, der leicht ein schwieriges Thema angeht: das Erwachsenwerden.
GEISTERBAHN von Ursula Krechel
Ja, ich bin ein Fan von Wolf Haas, aber eben auch einer von Ursula Krechel, deren LANDGERICHT für mich - zwar spät – aber einer der eindringlichsten Romane über das Schicksal der durch die Nazis verfolgten Rückkehrer nach 1945, wobei es um die Justiz geht, wo, das darf man nicht vergessen, in den 50er Jahren die wenigen jüdischen Richter , die überlebt und zurückgekehrt waren, an den Gerichten nicht Recht sprechen durften, wenn es um Sachverhalte aus der Nazizeit ging, da sie nicht objektiv seien, während die fast vollständig übernommenen NS-Richter natürlich ‚objektiv‘ urteilen, auch bei NS-Fällen.
Auch in GEISTERBAHN geht es um die schreckliche Zeit von 1933-1945, die einem heute so kurz vorkommt, nur 12 Jahre und eine gesellschaftliche Verwüstung für immer, bzw. um die Zeit direkt nach dem Nationalsozialismus und eben auch um die Jahrzehnte vor der Machtergreifung der Nazis. Es geht um eine Schaustellerfamilie, eine Sinti-Familie, sehr selten in der deutschen Literatur. Familie Dorn ist in den Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs ganz gut durchgekommen, aber die mörderische NS-Politik bedeutet Gefahr an Leib und Leben. Konkret sind es erst Sterilisation, dann Verschleppung, Zwangsarbeit, KZ-Mord.
Als eigentlich nach 1945 alles besser werden könnte, herrschen in vielen Gegenden die alten Garden weiter und auch wenn es neue Leute sind, wollen sie mit solchen oft nichts zu tun haben. Familie Dorn weiß nicht, was tun, weil ihre Familie dezimiert und kein Vertrauen in die Zukunft da ist. Es interessiert einfach niemanden, wie einzelne überlebten. Die Vergangenheit soll vergangen sein und die Orientierung nur auf morgen gerichtet sein.Für Anna in der Schule heißt das, daß über nichts der Vergangenheit gesprochen wird, sie weiß nicht, was mit den anderen Schülern war und keiner will von ihr etwas wissen.
Man ist oft sprachlos, wie gut es Ursula Krechel gelingt, diese schizophrene Situation der Nachkriegszeit zu schildern, hier konkret in Trier, wenn die Täter von gestern ungehindert auf die Überlebenden, die Opfer treffen. Man muß sich das mal vorstellen, daß auch nach über 75 Jahren das ein notwendiges Buch ist, weil die Versäumnisse der Anfangsjahrzehnte nach dem Krieg so verheerend im Schweigen, im Verschweigen liegen und lagen. Außerdem hat Ursula Krechel einfach die Fähigkeit, Inhalt und Form in eine sprachliche Form zu bringen, die konkret und berührend, die poetisch und genau ist.
Absolute Leseempfehlung. Eigentlich alle beide Bände.
Foto:
Buchumschlag
Info:
Wolf Haas, Junger Mann, Hoffmann und Campe 2018
ISBN 978 3 455 0038 8
Ursula Krechel, Geisterbahn, Verlag Jung und Jung 2018
ISBN 978 3 99027 219 0