Auf die Schnelle: Gute Literatur, gebraucht, Teil 93
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Neulich schrieb ich schon einmal, daß ich bei aller ziemlich guter Kenntnis der Provence und der Côte d’Azur noch nie in Marseille war und sowieso finde, daß Marseille ein eigenes Kapitel ist. Ein Kapitel, das ich nur über die Literatur kenne. Da aber gut und vielfach. Ich beschränke mich auf fünf Romane, von denen drei zusammengehören. Der eigentliche Anlaß für den Schwerpunkt Marseille aber ist, daß am 4. Juli 2020 erstmals eine Frau zur Bürgermeisterin dieser so männerdominierten Weltstadt gewählt wurde: Michèle Rubirola.
DIE MARSEILE-TRILOGIE: Total Cheops, Chourmo, Solea von Jean-Claude Izzo
Welch wunderbarer Roman, beziehungsweise gleich drei, in denen man in den gut 650 Seiten immer stärker hineingezogen wird vom Autor, der ein ‚echter‘ Marseiller ist. Ja, er ist 1945 dort geboren, aber ein echter ist eben halb Italiener, halb Spanier mit arabischem Blut. Und so kommt einem auch Marseille vor. Ein Vielvölkergemisch, was der Hafen unterstützt.
So ist auch Fabio Montale mit vielen befreundet, die aus allen möglichen Ecken kommen. In Marseille ist nicht wichtig, woher Du kommst, sondern wie Du bist, weshalb die Trennung auch nicht zwischen den angeblich Anständigen und den Unanständigen verläuft, sondern schlicht, mit wem man befreundet ist. Zugegeben, das eine hat mit dem anderen durchaus zu tun. Aber was dieser Roman berührt, ist das menschliche Miteinander, das einen durch Dick und Dünn trägt und da kann schon ein Mord dazwischen kommen. Nett gesagt, ob einer Polizist wird oder Gangster sei biographischer Zufall.
Auf jeden Fall ist Fabio Montale kein großer starker Held, sondern ein kleiner Polizist, der lieber hat, wenn er keinen Mord klären muß und sich mit allen gut versteht und auch gerne mit anderen ißt und trinkt. Aber da werden zwei ermordet. Es sind zwar zwei Gangster, aber es sind doch seine Freunde, weshalb er ermittelt, auch wenn nicht alle das so wollen. Und als er Ordnung schafft, sind nun ganz gewisse Leute wieder nicht zufrieden. Man hängt sein Herz an diesen Menschen. Nur geht es nicht weiter mit ihm. Denn nach dem dritten Roman verstarb der Autor, der gerade noch das neue Jahrhundert, das neue Jahrtausend erreichte, viel zu früh im Januar 2000.
DREI UHR MORGENS von Gianrico Carofiglio
Zum Schlafen sind die sie nicht nach Marseille gefahren: Sohn Antionio mit seinem Vater. Es ist sogar umgekehrt, sie sind nach Marseille gefahren, damit Antonio zwei Nächte und zwei Tage nicht schläft. Der Vater dürfte ja, aber natürlich läßt der den Gymnasiasten nicht alleine bei der Vorbereitung für eine notwendige neurologische Untersuchung, Spezialgebiet der dortigen Klinik.
Gleich am Anfang erzählt Antonio, daß er nun 50 Jahre wird, so alt wie damals sein Vater war, als er mit ihm nach Marseilles fuhr. Das war nötig, weil er seit er sieben Jahre alt war, Aussetzer hatte, Ohnmachten, Anfälle, die aber nicht epileptisch sind, von denen die italienischen Ärzte – wo wir sind, erschließt sich nicht – erst meinen, das würde sich auswachsen, was aber nicht passiert, weshalb jetzt die beiden nach Marseilles fahren. Die beiden. Die sich kaum kennen. Denn der Vater hatte eine Frau kennengelernt, mit der er lieber leben wollte und dies tat. Folge war, daß die beiden: Vater und Sohn ein Nichtverhältnis haben. Sowieso ist Antonio nicht die Stimmungskanone, aber gegenüber seinem Vater eigentlich stumm.
Das ist wirklich eine gut erfundene Ausgangssituation, die durch die nötige Wachheit der beiden Protagonisten eine Erzählsituation schafft, die ja den Dialog fast erzwingt. Denn was so man machen, wenn man diese zwei Tage und Nächte wach zusammen ist. Wir sind nun Zeuge, wie ganz langsam, aber immer stärker ein Band zwischen beiden wächst und sie sich kennenlernen. Marseilles auch und wir mit ihnen. Denn, um wach zu bleiben, ziehen die beiden durch die Stadtviertel, die feinen, die ordinären, dann der Strand! Marseilles ist nicht nur dreckiger Hafen, sondern bedeutet auch Strände, wo die Welt endlos wird.
Und am Schluß, ja die Untersuchung, natürlich gibt es ein Ergebnis. Aber nur für die Leser und Leserinnen und nicht für die, die nur hier nachlesen.
MARSEILLE. 73
Dieser wunderbare historische, nämlich 1973 spielende Kriminalroman hat eigentlich auch einen Vorläufer, den man gleich mitbesprechen möchte, wenn Commissaire Daquin nun zum zweiten Mal erfolgreich, wenn schon nicht Ordnung schafft, so doch die Schuldigen drankriegt. Es geht inzwischen elf Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens gegen Frankreich hoch her und Marseille wird zum Zentrum, wo alles aufeinanderknallt. Erst ein Mord, dann der zweite. Die Falschen werden verdächtigt, bis Daquin sich einschaltet, der aer mit den verschiedenen Polizeiorganisationen, die es in Frankreich gibt, anlehnt, bis...
Das hatten wir gerade ausführlich in wiedergegeben, als dieser eindrucksvolle Kriminalroman ganz vorne auf der Krimibestenliste stand:
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/20962-dominique-manotti-mit-marseille-73-von-ariadne-bleibt-auf-platz-2
Fotos:
Cover
Info:
Jean-Claude Izzo, Die Marseilles-Trilogie. Total Cheops, Chourmo, Solea, Unionsverlag Taschenbuch 572, 2012
ISBN 978 3 293 20572 7
Gianrico Carofiglio, Drei Uhr morgens, Folio Verlag 2019
ISBN 978 3 85256 769 3
Dominique Manotti, Marseille.73, Ariadne 1247 im Argument Verlag 2020
ISBN 978 3 86754 247 0
ADAC Reiseführer PROVENCE 2001, ISBN 3 87003 619 2
Der Grüne Reiseführer Côte d’Azur, Französische Riviera, Michelin 2002, ISBN 2 06 000246 X