Auf die Schnelle: Gesundheitsliteratur, gebraucht, Teil 100
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich wunderte ich mich schon lange, daß seit einem Jahr keiner von dem Buch spricht, das der Wagenach Verlag 2008 zur SPANISCHEN GRIPPE herausgab und das uns heute sehr viel mehr zu sagen hat, als damals. 2008 war es 90 Jahre her, seit diese Pandemie u.a. die Maler Gustav Klimt und Egon Schiele in Wien dahinraffte.
TOLLKIRSCHE UND QUARANTÄNE. Die Geschichte der Spanischen Grippe Wilfried Witte
Als das Buch damals herauskam, schrieb die FAZ in ihrer Rezension als Überschrift: „Was bei der nächsten Epidemie passieren wird“. Aber im Text heißt es dann: „Dennoch spielt die Spanische Grippe, anders als die Pest, im kulturellen Gedächtnis Westeuropas keine rolle. Es gibt kein Denkmal und kein Archiv, hat der Mediziner und Historiker Wilfried Witte festgestellt.“
Daß er neben der herkömmlichen Recherchearbeit, nämlich den Patientenaufzeichnungen der Ärzte und Kliniken, den Zeitungsberichten u.a. über ein echtes virologisches und genetischen Wissen verfügte, hängt mit einer Entdeckung im Jahr 1997 zusammen, als unter dem Permafrost liegende Leichen gefunden wurden, die an der Spanischen Grippe verstorben waren. Seither weiß man genau, um welche Erreger es sich handelt und daß Vögel die Überträger des Virus waren.
Heute gelesen, erschrickt man, daß man das nicht selber hat kommen sehen, was Witte nach Schweine- und Vogelgrippe und anderen Erregern ganz klar als Prophezeiung dem Leser mitgibt: die nächste Pandemie kommt bestimmt, was eingetreten ist. Wie hat man beim Erscheinen des Buches auf das Titelfoto reagiert, ein elegantes Paar, beide mit Hut, und dunkles Mund-Nasen-Masken, die übrigens viel zierlicher sind, einfach eleganter als die heutigen. Wir kannten Masken bisher nur durch die Touristen aus Asien, die damit meist in Gruppen in Frankfurt herumliefen, doch leicht zum Gespött der Leute. Verblüfft liest man auch sehr viele Warnzeichen, so daß vor allem in Großbritannien die Grippetoten um 2009 außerordentlich anstiegen, wirklich Tausende, diese Grippe gelangte dann über Spanien auch nach Deutschland.
Die Spanische Grippe soll im März 1918 in Kansas ausgebrochen sein. Erster bekannter Kranker war ein Schüler, dann Soldaten. Man nimmt an, daß mit Truppenschiffen dieser Virus nach Europa gelangte, Mitte April nach Frankreich, Ende April nach Belgien, dann englische, dann deutsche Soldaten. Und erst, als am 27. Mai der spanische König an der neuen Grippe erkrankte, wurde sie zur Spanischen Grippe. Ende Mai waren 200 000 Spanier erkrankt, aber erst starben nicht auffällig viele daran. Und dann gab es die Ruhe vor dem Sturm und erneut muß man Anfang 2021 die Übereinstimmung feststellen. Wie im Sommer 2020 dachte man auch im Sommer 1918, das Schlimmste sei vorbei. Die Erkrankungen gingen zurück, außerdem lag das Kriegsgeschehen in den letzten Zügen. Doch im Herbst kam die eigentliche Pandemie in Gang. In Wien verstarb im Oktober die im sechsten Monat schwangere Frau Egon Schieles an der Spanischen Grippe, Tage später auch der Maler. Und recherchiert man selber dann den Spanische Grippetod von Gustav Klimt, zeigt sich, daß der zwar an einem Grippeinfekt starb, aber schon im Februar.
Denn die Grippe, die Influenza hatte seit Jahrhunderten immer wieder in Europa in Wellen zugeschlagen, geriet aber nach 1891, nach der letzten Welle in Vergessenheit. Wilfried Witte nimmt dann die einzelnen besonders betroffenen Organe unter die Lupe, zuvörderst die Lunge, deren Beschaffenheit durch die Zellularpathologie Virchows in weiteren Forschungen ‚durchschaut‘ waren. Aber die neuen Erreger waren nicht einzuordnen, die ganze internationale Medizinwelt stand Kopf, denn man dachte an Bakterien, unsere heutigen Viren waren noch nicht klar identifiziert. Aber man erkannte die Lunge als erstes gefährdetes Organ, das dann schnell tödlich befallen war. Auf einmal gingen die Totenzahlen massiv in die Höhe. Und zwar war die am meisten befallene Gruppe die Zwanzig bis Vierzigjährigen. Vor allem Gebärende verloren erst ihre Kinder, dann starben sie selber.
Daß ein Gerücht aufflammte und durch die Lande zog, es handele sich um die Pest oder die Lungenpest, lag an den schwarzen oder tiefblauen Leichnamen, die aber durch den Sauerstoffmangel hervorgerufen worden war. Noch immer war die Diagnose schwammig. So wurde z.B. der Sozialwissenschaftler Max Weber, geb. 1864, mit einer Erkältung am 4. Juni 20 krank, die mauserte sich zur ausgewachsenen Grippe, die dann zur Lungenentzündung wurde, an deren Folgen Weber noch am 14. Juni starb. Sein jüngerer , 1868 geborene Bruder Alfred Weber, Nationalökonom, lebte bis 1958! Er hatte über die Krankheit des Bruders noch verbreitet: „Wir Webers werden nicht leicht an so etwas krank. Unsre schwache Stelle sind unsere Nerven- aber der ‚physiologische Corpus‘ - der ist bei uns allen hieb- und stichfest.“ Ob auch Weber noch ein Opfer der Spanischen Grippe wurde, ist nicht eindeutig, aber möglich ist es schon, weil die Spanische Grippe in den nächsten Jahren noch nicht verschwunden war.
Und nun kommt Franz Kafka ins Spiel, der war von Alfred Weber zumDoktor der Rechte promoviert worden. Der war jahrelang kränklich. Heute weiß man, daß in der Fabrik seiner Familie Asbest eine Rolle spielte, als ‚Eternit‘ Hit der Bauindustrie, heute seit Jahren der schlimmste Lungenkrebsmotor und verboten. Aber das sei für die Tuberkulose, an der Kafka litt, nicht bestimmend. Am 18. Oktober 1918 erkrankte Kafka an der Spanischen Grippe, bekam gleich Lungenentzündung , erholt sich, wird erneut grippekrank und stirbt 1924. „Wieweit die Spanische Grippe die Determinante gewesen ist, die der ruhende Tuberkulose die tödliche Wendung gab, darüber ist kein abschließendes Urteil möglich.“
Es bleibt nachzutragen, daß im Unterschied zur Coronapandemie die Spanische Grippe vor allem in Ländern der Dritten Welt, hauste in Afrika, bei den Inuits, wo ganze Dörfer ausstarben, und in Indien mit 17-18 Millionen Opfer. Vergleicht man das mit den Daten von heute, Quelle John Hopkins Universität, so steht Indien mit 12 055 855 Coronaerkrankten an dritter Stelle der Welt und hat 162 144 Tote zu beklagen. Aber das wären noch immer 5-6 Millionen weniger Kranke als zu Zeiten der Spanischen Grippe, wobei man die damaligen Zahlen für zu niedrig hält.
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Info:
Wilfried Witte, Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Wagenbach Verlag 2008
ISBN 978 3 8031 3633 7