Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der eigenartigeste und berührendste Roman, den ich seit langem gelesen habe, zudem ein Buch, in dem kein Satz, kein Wort zu viel steht und in dem dem Leser vertraut wird, daß er mitdenkt und mitfühlt. Die frankokanadische Autorin Aude (1947-2012), die diesen Namen aus ihrem eigenen Cl aude tte Charbonneau extrahierte, ist bei uns weithin unbekannt, obwohl sie in Kanada eine literarische Größe ist und auch viele Preise erhielt, was man nach diesem ersten von ihr auf Deutsch erschienenen Roman gut verstehen kann.
Man möchte gerne weitergeben, was man über die Autorin herausgefunden hat. Aber sinnvoller ist es, über dieses Buch zu sprechen, ihm nachzufühlen, soviel Lebensweisheit, Lebensfreude und Lebenstrauer vereint es. Zu Beginn war ich erst einmal doch leicht unangenehm berührt. Wir sind im Krankenhaus, wo Corinne schon vier Wochen weilt, „Jeden Morgen weint sie.“, was wir gleich darauf verstehen: „Vor zwei Wochen hat der Frauenarzt die endgültige Diagnose gestellt: Der Blutaustausch zwischen den Föten sei gestört. Der eine, den man zunächst für bedrohter gehalten habe, sei überraschend gewachsen und habe sich alles einverleibt, während der andere, anfangs kräfitgere, langsam verkümmert sei, weil er sein eigenes Blut dem Zwilling übertragen habe.“
Es geht also um sich verändernde Aggregatszustände, physische und psychische, die hier beginnen und die ganze Erzählung fortwähren. Folge der obigen Analyse der Ärzte wird sein, daß der eine Zwilling auf Kosten des anderen leben wird, der andere abstirbt. Es muß eine natürliche Geburt sein, was nach dem zweihundertzweiunddreißigsten Tag der Schwangerschaft geschieht, so daß Hans geboren wird und sofort in den Brutkasten kommt. Sozusagen als Nachgeburt wird dann die Totgeburt erwartet. Aber das totgewähnte Kind ist noch am Leben, kommt in denselben Brutkasten, aber seine Überlebenschancen sind gering.
Man muß zwischendurch etwas zum Erzähler, der Erzählerin sagen, die Hans zum Mittelpunkt des Geschehens macht und nicht nur das, sondern eigentlich aus seiner Perspektive erzählt. Das ist eine interessante Konstellation, da sich das Eigentliche des Romans um den zweiten Zwilling dreht, von allen nur DER KLEINE genannt. Höchste Zeit von dieser sehr angenehmen Familie zu sprechen, Corinne hat mit Pierre einen sehr verläßlichen Ehemann und Vater. Und obwohl die beiden ihre Fürsorgefunktion für ihre drei Kinder - vor Jahren ist schon Tochter Alexandra auf die Welt gekommen – perfekt ausfüllen und es im Roman hauptsächlich um die drei Kinder geht, wird doch nie von Mutter oder Vater gesprochen; mit ihren Vornamen bleiben sie eigenständige Personen und werden eben nicht in der Funktion für ihre Kinder bezeichnet. Was außerdem zur Schreibstrategie hinzugehört, ist, daß die in 29 Kapiteln unterteilte Geschichte große zeitliche Sprünge macht, die nicht groß angekündigt werden, sondern einfach stattfinden. Man fühlt sich als Leserin ernst genommen durch das Zutrauen, so schwierige Lebenslagen in weiten Abständen verstehen zu können.
Denn schwierig wird es für alle, herzzerreißend und herzerwärmend. Hans, der Gesunde und Starke wird zwar die Familie dominieren, aber nicht aus Stärke, sondern aus Schwäche. Er liebt seinen kleineren Zwilling, der in dieser Familie der souveränste Mensch wird, mit einer inneren Gelassenheit und der Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken, als Zeichner/Maler und als intuitiver Geiger. Emotion pur. Jeder muß diesen Kleinen lieben, der in der Familie alle zu besseren Menschen macht und für jeden weiß, was dieser braucht. Das alles wird mit tiefer Liebe unaufdringlich geschildert, wobei man als Leserin durchaus ahnt, daß der Kleine sterben wird.
Aber noch lebt er und dieses schmale Buch kann auch noch Bewegendes zum Geschlechterverhältnis der Geschwister vermitteln: „Seit Hans als Baby in die Familie gekommen war, hatte er Alexandra als Bedrohung empfunden. Hartnäckig hatte sie versucht, sich in das Leben der Brüder einzumischen, sich zwischen sie zu drängen, die beiden ihr und den anderen gleich zu machen. Hans hatte schnell eine dicke Mauer um sich und seinen Zwilling errichtet.“ Ich kann mich nicht erinnern, in herkömmlichen Romanen so Erhellendes zur Konkurrenz, zur Abneigung sowie Zuneigung und Abhängigkeit von Geschwistern gelesen zu haben. Er klaut die Tagebücher der Schwester und liest sie. „Hans spürt immer deutlicher, daß er eines Tages, wenn sein Bruder sterben sollte, genauso allein sein wird wie sie.“
Dieser Roman ist unter der Hand auch ein Plädoyer für das Anderssein. Denn der Kleinere ist anders. Er kommt nach der gemeinsamen Grundschulzeit nicht mit Hans aufs Gymnasium, sondern in eine Förderschule. Nur Hans weiß, daß der Kleine sich intellektuell auf dem gleichen Level wie er selbst befindet, sogar schlauer ist und daß er sich sozusagen mit Absicht dumm stellt, um sich aus der Schußlinie der Schülerkonkurrenz zu retten und lieber in Ruhe seinen Kunstneigungen zu folgen. Dieser Kleine hat eine so wohltuende Wirkung auf seine Umgebung, fühlt immer die Gemütszustände der anderen, rettet Alexandras Katze aus dem Wald, beim Hansens Hund ist das Alter dagegen, er ist einfach so liebenswert, daß man erstaunt feststellt, in diesem Roman wäre so viel Kitschpotential, aber er ist null kitschig.
Je länger man die nur 131 Seiten liest, um so mehr bewundert man die Autorin für diese, ihre Kunst, derartige Menschendramen unter die Haut gehen zu lassen. Wie oben ausgeführt, vermute ich, daß ihre Entscheidung, aus der Perspektive von Hans zu erzählen, genau dies ermöglicht, denn Hans ist erst einmal einer, der eher Antipathie erweckt, es aber mit Hilfe des Kleinen, der nur Objekt ist, schafft, ein besserer Mensch zu werden.
Es gab nur etwas, was mich wunderte. Die Pubertät der Kinder spielt eine große Rolle, aus der heraus die erste Verliebtheit entsteht. Es geht in diesem Alter aber doch um das Empfinden und Versprachlichen von Gefühlen, so viele kleine Schritte, die Ängste, Sehnsucht, erotische Annäherungen. Hier aber fangen die Pubertierenden, erst Alexandra, später Hans sofort mit körperlicher Liebe an. Seltsam.
P.S.
Ach ja, das Bändchen nicht zu vergessen! Man ist ja heutzutage schon froh, wenn ein Verlag noch ein Lesebändchen einbindet, das dem Leser verläßlich anzeigt, zwischen welchen Seiten man das Lesen unterbrochen hatte, bei diesem kleinen, feinen Buch sicher nur kurz, denn es zieht einen an.
Leider findet man nicht den Originaltitel, denn ‚Wanderkind‘ ist bei uns kein gängiger Begriff. Das Titelbild mit den beiden Jungen, Hans und der Kleine von hinten, hilft da auch nicht weiter. Ina Böhme hat aus dem kanadischen Französisch übersetzt und wenn ich sage, man merkt das nicht, soll das ein Lob sein, so selbstverständlich liest sich dies: karg und üppig gleichermaßen.
Und noch etwas. Lange hatte ich nichts mit dem Kröner Verlag zu tun gehabt, dessen Bücher ich aber dutzendfach in den Regalen stehen habe, hauptsächlich die griechische und römische Antike. Wirklich großartige, daß der Verlag sich dieses Kleinods angenommen hat. Man ist gespannt auf weitere Romane von Aude.
Foto:
Cover
Info:
Aude, Das Wanderkind, Kröner Verlag 2021
ISBN 978 3 520 61601 2
Zufällig kündigt WELTEXPRESSO heute auch einen Film im ZDF zum selben Thema, der unterschiedlichen körperlichen und seelischen Verfassung von Zwillingen
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