julie zehJuli Zehs neuer Roman "Über Menschen"

Hanswerner Kruse

München (Weltexpresso) - Die alternative Werbetexterin Dora ist dem Berliner Freund ausgebüxt. „Ausbüxen. Sie mochte das Wort. Es klang nach Aus-der-Büchse-Entwischen.“ Nun lebt sie in ihrem großzügigen Domizil im Provinznest Bracken. Abends, nach der ungewohnt aufzehrenden Gartenarbeit, entwirft sie dort im Home Office eine Kampagne für die nachhaltig produzierten Jeans „Gutmensch“.


Ich bin hier der Dorfnazi“, begrüßt sie an der Gartenmauer ein glatzköpfiger Nachbar, der heimlich ihr Grundstück pflegt. Später kümmert sie sich um seine verwahrloste Tochter Franzi. Beim schwulen Paar gegenüber pappt ein AfD-Aufkleber am Tor. Die Männer machen ihr klar: „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über die Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen.“

Seinerzeit beschrieb Juli Zeh in ihrem erfolgreichen und verfilmten Buch „Unterleuten“ verschiedene Personen. Im neuen Roman „Über Menschen“ schildert sie Doras Erlebnisse im Brandenburgischen einzig aus deren Perspektive: Sie lernt einige Dorfbewohner kennen, die ganz anders denken als sie, schlägt sich ohne Auto durch und streicht mit einigen Nachbarn ihr Haus. Zwischendurch erinnert sie sich an Robert und das verflossene Leben in der gemeinsamen Berliner Wohnung: „Nichts fehlte und nichts störte. Bis Greta Thunberg in ihr Leben trat.

Ihr Freund wurde zum dogmatischen Klima-Inquisitor, der Doras Müll nach Pfandflaschen durchsuchte und dessen apokalyptische Szenarien ihr mächtig aufs Gemüt schlugen: „In Dora wuchs der Drang zu wiedersprechen. Was war aus der Gewissheit geworden, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt, weshalb an allem gezweifelt, über alles gesprochen und gestritten werden muss? Dora verstand nicht, woher Robert das sichere Gefühl für die Überlegenheit seines Lebensstils nahm. Sie kam da nicht mit.

Mit schlechtem Gewissen kaufte sie hinter seinem Rücken das renovierungsbedürftige Gutsverwalterhaus. „Dann kamen Weihnachten, Silvester und schließlich Corona, und jetzt fuhr sie wieder nach Bracken und hatte den Mietwagen mit ihrer Habe vollgepackt.“ Im Einkaufszentrum bemerkt sie: „Vom Ausnahmezustand der Großstadt ist nichts zu spüren. Eine Weile steht Dora da und schaut den Menschen beim Normal-Sein zu. Das tut gut. Die Banalität des Alltags. Sie hat nicht gewusst, wie wichtig das ist.

Schließlich wird auch sie aufgrund der Corona-Krise arbeitslos. Doch nach dem Gespräch mit der nachts arbeitenden, allein erziehenden Sadie denkt sie: „Wenigstens hat sie jetzt ihren Job verloren. Vielleicht ist das der erste Schritt in Richtung Normalität. Raus aus den Filterblasen und Echokammern, rein ins echte Leben. In eine Sadie-Wirklichkeit, in der es um wirkliche Dinge geht, von denen in Prenzlauer Berg niemand etwas ahnt.“

„Über Menschen“ ist kein Krimi, doch schafft Doras langsam zerrinnende politische Korrektheit eine merkwürdige Spannung. Deshalb soll nicht mehr über die Geschichte verraten werden. Die Autorin verklärt das Landleben keinesfalls schwärmerisch, verteufelt aber auch nicht die Existenz in der Metropole. Stattdessen fühlt sie sich in Doras Frustration und Zerrissenheit ein, aus der das Zauberwort „trotzdem“ entsteht: „Trotzdem weitermachen, trotzdem da sein...

Die Charaktere der Menschen wirken zunächst etwas holzschnittartig, differenzieren sich aber im Laufe des Romans. Die Sprachbilder der Schriftstellerin sind einfach großartig: Da rennen Doras Gedanken wie „schnüffelnde Jagdterrier durchs Haus“ oder die Menschen am Lagerfeuer „senken die Stimmen, als dürfte die Nacht nicht beim Dunkelwerden gestört werden.“ In Tagträumen taucht Doras tote Mutter als Eichelhäher auf oder füttert die Tochter behutsam mit Brei.

Im Verlags-Interview berichtet die Autorin, dass sie ihren Text wegen Corona noch einmal umschrieb. Dennoch ist „Über Menschen“ keine Corona-Erzählung, sondern die Pandemie bildet lediglich den aktuellen Hintergrund ihres lesenswerten Romans.

Foto:
Peter von Felbert / Luchterhand

Info:
Juli Zeh „Über Menschen“, Luchterhand Literaturverlag, München 2021, gebunden, 416 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 978-3-630-87667-2