KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für November 2013, Teil 1
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Was haben wir uns gefreut. Wir haben bis weit über die Hälfte diesen Isaac Sidel Roman verschlungen, der unter die Schlagworte: Kriminalität, Mafia, New York und Polizei gehört, aber auch unter Ewige Liebe, jüdischer Gangster, Jugendstilpalast und Luxushotel ANSONIA, wo einst Gustav Mahler, Igor Strawinsky, Yehudi Menuhin, aber auch Jack Dempsey und sogar Angelina Jolie sich zu Hause fühlten.
Tja, und was war dann? Mitten im größten Enthusiasmus, über das Wunderliche, was dieser Cop aus der Bronx, der gleichzeitig zum Vizepräsidenten gewählt werden soll, aber als der eigentliche Präsident gehandelt wird, mitten drinnen erlahmten wir, besser: unser Interesse. Keine Ahnung, warum, denn bis dahin fanden wir diese Mischung aus wirklichem Geschehen und den Mythen New Yorks, ach was, ganz Amerikas, hinreißend, wenn dieser völlig abgedrehte Typ, der das Gute will und das Böse schafft und den manchmal auch das Böse dann selber schafft, aber nie bis zum endgültigen Exitus, immer nur als Warnung, daß es gleich so weit sei, wenn dieser Typ einerseits die Zurückgezogenheit des Hotelmythos ANSONIA aufsucht und andererseits für keine Klopperei und Totschlag sich zu schade ist, wenn es den Menschen der Bronx hilft, die hier das erleiden sollen, wir sind 1974, ach nein, schon 1986 in der Reaganzeit, was heutzutage Gentrifizierung heißt.
Da sei Sidel vor und so erleben wir einerseits einen mittelalterlichen Minnesänger, der, die Liebe zu allen Inez der Welt im Herzen, daraus eine Mördergrube für andere macht, und dann doch auch den selbstzufriedenen und erfolgsverwöhnten Politikliebling gibt, dem keine Frau widerstehen kann und will und der rumballert, wie ihm der Sinn steht, denn er überlebt immer, angeschossen und angeknackst, überfahren und überfallen. Er ist ein Frauen- und der Götterliebling, aber dann doch viel mehr Kotzbrocken als uns lieb ist. Also wirklich. Zwischen Scham und Schande, zwischen Hoffen und Bangen hausen im 17. Stock des ANSONIA, aber auch im sonst ausgeschwiegenen 13. Stock (was die Kenner Triskaidekaphobie nennen, die abergläubische Angst vor der Zahl 13) die Überlebenskünstler der Welt. Man denkt, daß hier die Ureinwohner New Yorks beschrieben und verhandelt werden, wenn die Geschichten vom Gangster Arnold Rothstein erzählt werden, der als Genie des organisierten Verbrechens wirklich hier wohnte, während, wie wir im Nachwort lesen, dieser eindrucksvolle David Pearl – auch so etwas wie ein Ahasver, mit dem Unterschied, daß er seßhaft ist – eine Erfindung des Autors ist. Also mit dem Roman loslegen und berichten, wie lange er trug.
Das Unglaubliche ist in der Novemberliste, daß Herbstputz stattfand und nicht einige neue Krimis hinzukamen, sondern nur einige alte blieben. Das sind neben dem Platz 1 für unseren Isaac Sidel nur noch die Plätze 4 und 10. Das heißt im Umkehrschluß, daß es sieben neue Krimis gibt!! Kein Wunder, daß wir noch nicht alle kommentieren können, aber erst sind die beiden 'alten' dran!
Robert Wilsons STIRB FÜR MICH, erschienen bei Page & Turner, rutschte vom siebten Platz vor auf Rang 4. Dieser Thriller hat uns sehr gut gefallen, was schon daran liegt, daß Indien, dieser schweigende verschwiegene Kontinent, eine große Rolle im Buch spielt. Das nicht nur, weil Teile der Handlung dort spielen, sondern mehr noch, weil Mumbai, das der indische Großindustrielle Frank D'Cruz immer noch – wie wir – nur Bombay nennt, der Ausgangspunkt all dessen ist, was Franks Tochter Alyshia widerfährt, die entführt wird, gedemütigt sowieso, aber auch hart angepackt und jede Sekunde vom Tod bedroht. Das alles spielt in London, wo indische Gangster das Heft so in der Hand haben wie britische Gangster auch, wo man zwischendrinnen denkt, daß es dortzulande nur noch so gewalttätigeTürsteher, hinterfotzige Taxifahrer, Geheimdienstagenten aller möglichen Länder, Industriespione und jede Menge fieser Männer gibt.
Spannend liest sich das alles auch deshalb, weil eigentlich nichts so ist, wie es scheint, ohne daß uns der Autor mit Absicht in die falsche Richtung lenkte. Die Hintergründe sind einfach verworrener und vielschichtiger als ein Kidnapping sonst erwarten läßt, wo der Entführte gegen Geld zurückgegeben wird: lebendig oder als Leich. Darum geht es bei Alyshia aber gar nicht. Diese erst mal recht unerzogene, egoistische und wenig spirituelle junge Frau wurde deshalb entführt, um den Vater zu strafen, ihm Angst einzujagen, damit er mal an sich selbst sieht, was er Jahrzehnte mit den Menschen anrichtete, denen er übel mitspielte, so er sie überhaupt am Leben ließ.
Nein, ein Softie ist dieser Frank wirklich nicht, weshalb ihn auch die Mutter der Alyshia, die noble Isabel Marks, die ihn aufrichtig liebte, verließ und nach London ging, wo sie lebt, ihn aber insgeheim lange weiterliebte. Nur leben mit ihm, das wollte sie nicht mehr. Und nun kommt endlich Boxer ins Spiel. Das ist Charles Boxer, Ex-Militär, Ex-Polizist, der eines abends als Entführungsspezialist vom ihm bekannten Frank D'Cruz für alles Geld der Welt gebeten wird, sich einzuschalten und als erstes zu Alyshias Mutter gelangt. Das war's dann, denkt man bald, denn beide fallen in Liebe, wie man in London sagen täte. Das sehen sie aber beide nicht gerne, denn es geht ja um Alyshia und dies sieht auch Charles Exfrau Mercy – diese als heimlich offiziell eingeschaltete Mitarbeiterin des Morddezernats der Londoner MET - nicht gerne, die noch immer....ja, was denn, lieben in diesem Roman alle Frauen ihre Männer auch nach den Scheidungen weiter, während die Männer flott sich neue Gespielinnen suchen? Die Frage bleibt, aber es ist keine Zeit, darauf einzugehen, denn mitten im Verlauf gibt es auf einmal Stolpersteine und Spurenwechsel.
Nachdem die Experten den bisherigen Entführern auf der Spur war, psychologisch ganz schön interessant, wie sie drauf kamen, wurden diese von Normalkriminellen übertölpelt und erschossen und die sich schon in die Freiheit wähnende Alyshia erneut gefangengenommen, also erneut entführt und diesmal mit der Absicht, daraus richtig Geld herauszuschlagen. Mehrere Millionen mindestens. Aber die normalen Kriminellen halten nicht lange durch. Und mehr verraten wir jetzt nicht. Das ist ein Buch, das sich von alleine liest, weil die Schwere der Verbrechen und das Grausam-Bösartige sich immer die Waage hält, daß es im Leben auch andere Menschen, andere Gedanken und Gefühle gibt, so daß dieser Thriller einen nicht ins undurchdringliche Schwarze zieht, sondern auch Hoffnung leben darf.
Die KrimiZEIT-Bestenliste November 2013
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(1) |
Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes Aus dem Englischen von Jürgen Bürger Penser Pulp bei Diaphanes, 286 S., 16,95 € New York/Texas 1988. Isaac Sidel ist designierter Vizepräsident der USA. Die Bronx wird an die Army verscherbelt. Um sie zu retten, fightet Sidel mit dem letzten jüdischen Gangster. Band 11 des größten Crime-Mythos der Gegenwart. Charyn lesen ist Rausch. |
2 |
2 |
(-) |
Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde Aus dem Portugiesischen von Wanda Jakob A1 Verlag, 222 S., 18,80 € Brasilien. Eine Tasche voll Koks, eine Beinprothese, ein bigotter Profikiller, ein Pornodarsteller, eine Starregisseurin, ein Pudel, eine Boxerin im Danse grotesque des brasilianischem Großtstadtalltags. Zum Schreien präzis choreographiert. Furioso! |
3 |
3 |
(-) |
Friedrich Ani: M Droemer, 366 S., 19,99 € München. Der Geliebte einer Lokaljournalistin ist verschwunden. Tabor Süden und seine Kollegen aus der Detektei geraten in die Spinnennetze bayerischer Nazis. Ihre Recherche führt in einen Strudel der Vernichtung. Ungeheuer. |
4 |
4 |
(7) |
Robert Wilson : Stirb für mich Aus dem Englischen von Kristian Lutze Page&Turner, 542 S., 14,99 € London/Mumbai. Alyshia, Tochter eines indischen Millardärs mit Geheimdienst- und Verbrecherkontakten, wird entführt. Eine Strafaktion gegen den Vater? Kidnapping-Consultant Boxer navigiert auf Sicht im Meer globaler Verwicklungen. Bös verzwickt. |
5 |
5 |
(-) |
Lee Child: 61 Stunden Aus dem Englischen von Wulf Bergner Blanvalet, 448 S., 19,99 € Gefängnisstadt Bolton, South Dakota. Schneesturm, tödliche Kälte. Jack Reacher beschützt eine Kronzeugin. Die lokale Polizei ist durch Ausbrecher abgelenkt. Ziel aller Umtriebe: ein geheimes Lager der Air Force. Bizarr, doppelbödig, hoher Suchtfaktor. |
6 |
6 |
(-) |
Garry Disher: Dirty Old Town Aus dem Englischen von Ango Laina u. Angelika Müller Pulp Master, 332 S., 13,80 € Melbourne. Erneut hat sich Profi-Verbrecher Wyatt mit Angebern und Gierschlünden eingelassen. Ein simpler Überfall auf einen Juwelier wird zum Kampf um Beute, Rache und eine starke Frau. Der hartgesottene Wyatt verblüfft durch Empfindsamkeit. |
7 |
7 |
(-) |
Michael Robotham: Sag, es tut dir leid Aus dem Englischen von Kristian Lutze Goldmann, 480 S., 14,99 € Oxford und Umgebung. Vor drei Jahren wurden zwei Mädchen entführt. Eins konnte fliehen. Das andere hat die Kampusch-Rolle: überleben in der Macht eines Psychopathen. Psychologe Joe O’Loughlin bringt die erstarrten Ermittlungen auf Trab. |
8 |
(-) |
Tom Rob Smith: Ohne jeden Zweifel Aus dem Englischen von Eva Kemper Manhattan, 384 S., 19,99 € London/Südschweden. Marks Mutter entkommt der schwedischen Psychiatrie. Sie berichtet dem Sohn Verstörendes. Gehört ihr Mann, sein Vater, zu einem Kartell von Kinderschändern? Oder leidet sie an Verfolgungswahn? Arme Familie! |
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9 |
9 |
(-) |
Christopher Brookmyre: Die hohe Kunst des Bankraubs Aus dem Englischen von Hannes Meyer Galiani Berlin, 384 S., 14,99 € Glasgow/Mexiko. Superschlaue Zirkustruppe raubt Bank aus. Antiterrorspezialistin Angelique verknallt sich in den Boss der Trickster. Als feindliche Insiderin hilft sie ihm beim großen, zweiten Coup, gegen ihren Willen. Romantisch, tolles Verwirrspiel. |
10 |
10 |
(5)
|
C. S. Forester: Tödliche Ohnmacht Aus dem Englischen von Britta Mümmler dtv, 280 S., 14,90 € London/Sussex. Im 1935 geschriebenen, erst 2011 entdeckten Roman erweist sich Käptn-Hornblower-Erfinder Forester als Meister des psychologischen Noirs. Familiengewalt, Notwehr – einfühlsam aus damals außergewöhnlicher weiblicher Perspektive. Eine Sensation. |
INFO:
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wurde die KrimiZeit-JahresBestenliste
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 7. November 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 7. November 2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste
Monatlich wählen siebzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt
Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Gunter Blank, Sonntagszeitung
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten.