KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für November 2013, Teil 2
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Hat es das schon je gegeben? In einem Monat gleich sieben neue Krimis auf der zehn Plätze umfassenden Liste? Als Senkrechtstarter KRIEG DER BASTARDE von Ana Paula Maia aus Brasilien. Einen Monat zu spät, resümiert man bei sich, wenn man an die öffentliche Aufmerksamkeit zum Ehrengast Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse denkt. Aber man kann es auch genau andersherum sehen, Brasilien ist im deutschen Krimialltag angekommen.
Denn, wenn Sie sich erinnern, war LEICHENDIEB (Tropen Verlag) der Brasilianerin Patrícia Melo der Sommerhit, der erst auf dem ersten Platz und dann dem zweiten landete und für den die Autorin auf der Buchmesse den LiBeraturpreis 2013 erhielt, der Frauen der Dritten Welt vorbehalten ist. A GUERRA DOS BASTARDOS von Ana Paula Maia ist schon 2007 erschienen und es heißt, daß die ehemalige Punkmusikerin Ana Paula Maia aus Iguaçu einen Wirbel aus Chaos und Gewalt entfacht. Wobei man bei ihrer Heimat Iguaçu schon hellhörig wird. Nicht nur wegen der gewaltigen naturschönen Wasserfälle, sondern auch des Dreiländerecks Brasilien, Argentinien und Paraguay wegen, ein ganz besonderes Pflaster, wie schon die Jesuiten wußten.
Noch kennen wir den Roman nicht, geben aber eine Lobpreisung von Thekla Dannenberg gerne weiter: „Die 36-jährige Autorin hat den ‚Verkommenen, Maßlosen und Abtrünnigen’ einen so mörderischen wie übermütigen Roman gewidmet, eine brasilianische Mischung aus Punk und Pulp: Voller Zitate, heiter, frivol und makaber, aber niemals wirklich schwarz“. Die sechs übrigen Titel verteilen sich auf einen deutschen, drei englische und zwei australische, die immer öfter erscheinen.
Wir sind aber noch einen der drei alten Krimis schuldig, die auf die Novemberliste überlebt haben: Vom fünften auf den zehnten Rang gerutscht ist TÖDLICHE OHNMACHT von C. S. Forester, dtv-premium. Als 'verschollenes Meisterwerk' gerühmt, haben wir gebannt jedes Wort gelesen, weil über dem Roman, der im harmlosen Milieu der Vorstadt unter braven Leuten spielt, ein Unheil liegt, das sich in jeder Zeile wiederfindet und dann am Schluß sich doch so einfach auflöst, weil genau das eintritt, was man befürchtet hat oder sogar gehofft hat, wenigstens, was die Tat selber angeht und nicht die Folgen für die Betroffenen.
Um was es geht? Um nichts Braves. Denn der unbescholtene, aber absolut als Herr im Haus dominierende Ehemann Ted muß seine Schwägerin umgebracht haben, etwas anderes zu glauben, fällt der uns durch die Geschichte führenden Ehefrau und Schwester Majorie nicht ein, die in lieben Gedanken an die Familie nach Hause kommt, wo ihre Schwester Dot, die auf Derrick und Anne aufpassen sollte, mit dem Kopf im Backofen steckt und das tödliche Gas lang genug eingeatmet hatte. Sofort ahnt Majorie, daß ihr Mann der Täter sein muß, denn er hatte mit der Schwester ein Verhältnis angefangen, das, so zeigt die Autopsie nicht ohne Folgen blieb. Sie war schwanger.
Und nun nimmt die Geschichte einen psychologisch irrsinnigen Verlauf, denn wir erleben Majorie, wie sie alle Kraft dafür braucht, den Mörder nicht merken zu lassen, daß sie von seiner Tat und den Hintergründen weiß, aber deshalb nichts tun will, damit ihre Kinder unbescholten aufwachsen können. Das treibt auch stärkere Psychen als die von Majorie in den Wahn. Hinzu tritt mit Mrs Clair die Mutter, die den Schwiegersohn noch nie leiden konnte, der ihr in gewissem Sinn beide Töchter nahm. Die eine tot, die andere seine Untat bemäntelnd und aus der Welt schaffend. Doch da ist Mrs Claire davor.
In ihrem Rachefeldzug, den sie minutiös in den Details plant und auch umsetzt, fehlt dennoch die große Linie, so daß alles im Racherausch versinkt. Sie, die Tochter, die Familie. Das Milieu dieser bigotten kleinbürgerlichen Gesellschaft vor den Toren des Sündenbabels London wird in vielen Personen und vielen Einzelheiten entlarvt, wobei die Kunst Foresters darin besteht, sich nicht auf beschreibende Vorurteile solcher Leute zu beschränken, sondern diese als Menschen aus Fleisch und Blut in ihrer Beschränktheit durch wörtliche Reden lebendig werden zu lassen. Ein einziger Alptraum. Und das in der Gegend, wo doch nie Verbrechen geschehen. Die Sensation daran ist das Erscheinungsjahr des englischen Originals. Das war 1935! Wie es dazu kam, daß dieser psychologische Kriminalroman 2013 übersetzt und veröffentlicht wurde, wissen wir nicht, vermuten aber, daß noch andere Schätze zu holen wären.
Die KrimiZEIT-Bestenliste November 2013
Lfd. Nr. |
Rang |
Vor-monat |
Titel |
1 |
1 |
(1) |
Jerome Charyn: Unter dem Auge Gottes Aus dem Englischen von Jürgen Bürger Penser Pulp bei Diaphanes, 286 S., 16,95 € New York/Texas 1988. Isaac Sidel ist designierter Vizepräsident der USA. Die Bronx wird an die Army verscherbelt. Um sie zu retten, fightet Sidel mit dem letzten jüdischen Gangster. Band 11 des größten Crime-Mythos der Gegenwart. Charyn lesen ist Rausch. |
2 |
2 |
(-) |
Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde Aus dem Portugiesischen von Wanda Jakob A1 Verlag, 222 S., 18,80 € Brasilien. Eine Tasche voll Koks, eine Beinprothese, ein bigotter Profikiller, ein Pornodarsteller, eine Starregisseurin, ein Pudel, eine Boxerin im Danse grotesque des brasilianischem Großtstadtalltags. Zum Schreien präzis choreographiert. Furioso! |
3 |
3 |
(-) |
Friedrich Ani: M Droemer, 366 S., 19,99 € München. Der Geliebte einer Lokaljournalistin ist verschwunden. Tabor Süden und seine Kollegen aus der Detektei geraten in die Spinnennetze bayerischer Nazis. Ihre Recherche führt in einen Strudel der Vernichtung. Ungeheuer. |
4 |
4 |
(7) |
Robert Wilson : Stirb für mich Aus dem Englischen von Kristian Lutze Page&Turner, 542 S., 14,99 € London/Mumbai. Alyshia, Tochter eines indischen Millardärs mit Geheimdienst- und Verbrecherkontakten, wird entführt. Eine Strafaktion gegen den Vater? Kidnapping-Consultant Boxer navigiert auf Sicht im Meer globaler Verwicklungen. Bös verzwickt. |
5 |
5 |
(-) |
Lee Child: 61 Stunden Aus dem Englischen von Wulf Bergner Blanvalet, 448 S., 19,99 € Gefängnisstadt Bolton, South Dakota. Schneesturm, tödliche Kälte. Jack Reacher beschützt eine Kronzeugin. Die lokale Polizei ist durch Ausbrecher abgelenkt. Ziel aller Umtriebe: ein geheimes Lager der Air Force. Bizarr, doppelbödig, hoher Suchtfaktor. |
6 |
6 |
(-) |
Garry Disher: Dirty Old Town Aus dem Englischen von Ango Laina u. Angelika Müller Pulp Master, 332 S., 13,80 € Melbourne. Erneut hat sich Profi-Verbrecher Wyatt mit Angebern und Gierschlünden eingelassen. Ein simpler Überfall auf einen Juwelier wird zum Kampf um Beute, Rache und eine starke Frau. Der hartgesottene Wyatt verblüfft durch Empfindsamkeit. |
7 |
7 |
(-) |
Michael Robotham: Sag, es tut dir leid Aus dem Englischen von Kristian Lutze Goldmann, 480 S., 14,99 € Oxford und Umgebung. Vor drei Jahren wurden zwei Mädchen entführt. Eins konnte fliehen. Das andere hat die Kampusch-Rolle: überleben in der Macht eines Psychopathen. Psychologe Joe O’Loughlin bringt die erstarrten Ermittlungen auf Trab. |
8 |
(-) |
Tom Rob Smith: Ohne jeden Zweifel Aus dem Englischen von Eva Kemper Manhattan, 384 S., 19,99 € London/Südschweden. Marks Mutter entkommt der schwedischen Psychiatrie. Sie berichtet dem Sohn Verstörendes. Gehört ihr Mann, sein Vater, zu einem Kartell von Kinderschändern? Oder leidet sie an Verfolgungswahn? Arme Familie! |
|
9 |
9 |
(-) |
Christopher Brookmyre: Die hohe Kunst des Bankraubs Aus dem Englischen von Hannes Meyer Galiani Berlin, 384 S., 14,99 € Glasgow/Mexiko. Superschlaue Zirkustruppe raubt Bank aus. Antiterrorspezialistin Angelique verknallt sich in den Boss der Trickster. Als feindliche Insiderin hilft sie ihm beim großen, zweiten Coup, gegen ihren Willen. Romantisch, tolles Verwirrspiel. |
10 |
10 |
(5)
|
C. S. Forester: Tödliche Ohnmacht Aus dem Englischen von Britta Mümmler dtv, 280 S., 14,90 € London/Sussex. Im 1935 geschriebenen, erst 2011 entdeckten Roman erweist sich Käptn-Hornblower-Erfinder Forester als Meister des psychologischen Noirs. Familiengewalt, Notwehr – einfühlsam aus damals außergewöhnlicher weiblicher Perspektive. Eine Sensation. |
INFO:
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wurde die KrimiZeit-JahresBestenliste
- im NordwestRadio am Donnerstag, den 7. November 2013 mit Tobias Gohlis gegen 8.50 Uhr im Nordwestradio Journal und in den Sendungen der Literaturzeit, nachzuhören unter http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 7. November 2013 und unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste
Monatlich wählen siebzehn auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 1200 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury setzt sich zusammen aus:
Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt
Volker Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Gunter Blank, Sonntagszeitung
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau
Jochen Vogt, Elder Critic, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Bremen, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist, Plärrer , culturmag, DradioKultur
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die Ende Dezember herauskommt. und die wir für 2012 ebenfalls kommentierten.
Foto: Anders als sonst, haben wir nicht das neue Buch vom Titel abgedruckt, das sicher das nächste Mal wieder dabei ist, sondern TÖDLICHE OHNMACHT, im Vormonat auf Platz 5 und vom Verlag mit einem so passenden Titelbild versehen, daß wir dies herausstreichen wollen!