EMPFINDLICHE WAHRHEIT von John le Carré aus dem Ullstein Verlag und bei Hörbuch Hamburg, Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nicht nur Paul Anderson, der eigentlich Probyn heißt, genannt KIT, aber eigentlich Sir Christopher Probyn – doch das wissen wir alles erst sehr viel später – wird auf eine harte Probe gestellt. Auch der Leser. Denn das, was da in Gibraltar als Geheimaktion abläuft, ist eine derartig stümperhafte Aktion, daß einem schon beim Lesen die Haare zu berge stehen.
Außerdem durchschaut man das nicht ganz, denn da ist der Minister Fergus Quinn, der New Labour repräsentiert, eher aber ein absolutistischer, in die eigene Tasche wirtschaftende Despot ist, der zudem für sein politisches Vorhaben, ganz gefährliche islamistische Terroristen bei einer verbotenen Waffenlieferung in Gibraltar festzunehmen, diese Operation einer privaten US-Sicherheitsfirma namens „Ethical Outcomes“ überläßt, deren Personal amerikanische Söldner sind. Aha, das war der Sündenfall für Tony Blairs Politik, staatliche Aufgaben an private, sogenannte „Dienstleister“ auszulagern, also als Labour Partei das verschärft fortzusetzen, was Margaret Thatcher begonnen hatte.
Das Vorhaben, mit dem der Roman einsetzt, wird wie ein Thriller beschrieben, es finden aber nur aufwendige und ominöse Sandkastenspiele statt und die Funktion des Paul Anderson wird im Geschehen nicht klar, ihm am wenigsten. Aber auch der Leser hat seine Probleme, in dem wirren einen Sinn zu erkennen, gar einen politischen. Aber dieser Paul Anderson, der immer wieder seine Überforderung dem Leser nahebringt, spielt brav seine Rolle und gerade, weil alles in die Hosen geht, wird er anschließend befördert, zum Sir und auf eine Karibikinsel expediert, sprich: ins Wohlleben vor der Pensionierung abgeschoben.
Von einer so lächerlichen Figur lasen wir lange nicht und während wir uns noch fragen, was das alles soll, hat der geschickte Autor uns längst in seine Fallstricke verwickelt. Erstens laufen wir mit auf der Spur des Toby Bell, der Sekretär dieses Ekels, das Quinn heißt, ist und seinen Dienst ernst nimmt, ganz besonders, seit er merkt, daß ihn sein Dienstherr nicht ernst nimmt. Auf jeden Fall wird dieser Sunny Boy ernsthaft, als er merkwürdige Dinge mitbekommt, die an ihm vorbeilaufen. Hier kreuzt sich die Spur des Kit mit der des Toby, denn Letzterer schneidet ein Gespräch auf Tonband (!) mit, was in seiner Abwesenheit im Zimmer des Ministers zur Aktion in Gibraltar ausgeheckt wurde. Ungesetzlich natürlich und auch mit dem, was man Kollateralschaden nennt, wenn man inhuman ist, denn bei der Stümperaktion sind eine völlig unschuldige islamische Mutter und ihr Kind umgekommen.
Nein, wir schreiben nicht weiter. Denn, was sich als Aufarbeitung des Falls drei Jahre und später ereignet, ist eine solche Satire auf das neumodische England, daß es an Verachtung seinesgleichen sucht und nicht der Inhalt das Entscheidende ist, sondern die Art der Darstellung. Wie allerdings diese Aufarbeitung literarisch inszeniert ist, das ist dann wieder ebenso eine Persiflage auf das alte, das cornwallsche England, wo Probyn in aller selbstgerechten Rechtschaffenheit residiert und von da aus als Ritter gen London zieht, das Unrecht, an dem er ungewollt mitwirkte, zu ahnden. So erhält auch das gute alte England sein Fett weg. Daß es nur so kracht.
Angekündigt ist der Roman als von „hochaktueller Brisanz“ und als „Whistleblower, korrupte Beamte, private Sicherheitsfirmen, die Staatsaufgaben übernehmen.“ Letzteres stimmt und zeigt dessen Ungeheuerlichkeit, die ja direkt mit der Korruption zu tun hat – dieser Quinn muß für sein Desaster die Konsequenzen ziehen, woraufhin er weich fällt - und obwohl wir den Dreh, den le Carré seiner Geschichte verpaßt, goutierten, empfinden wir dennoch die empfindliche Wahrheit um Edward Snowden als eine andere Geschichte. Eine politisch weit gefährlichere und weitreichendere, aber auch eine, bei der wir uns einmischen können, was in EMPFINDLICHE WAHRHEIT auf das Lesen beschränkt bleibt.
Dennoch geht es im Kern bei beidem, dem Buch und der US-Wirklichkeit, um die Aufkündigung dessen, was seit der Überwindung des Absolutismus selbstverständlich war. Daß Staaten nach innen ihren Bürgern Freiheit und Rechte geben und auch nach außen alles tun, um diese zu wahren, was sich dann auf andere Staaten ausweitet, wenn diese mit Freundschaftsverträgen und Bündnissen zueinandergehören. Daß John le Carré vor den Ereignissen um Snowden (ab Juni 2013) sein Buch schon auf den englischen Markt brachte (Ende April 2013), zeigt einfach, wie politisch wach dieser Autor ist. Wir können gar nicht anders, als zu glauben, daß er längst an einem Buch über Snowden sitzt, oder besser: an einem Buch über die Geheimpolitik der USA, die sich zum selbsternannten Polizisten der Welt erklärt und für sich alle Rechten von totalitären Staaten nimmt, also unrecht handelt. In EMPFINDLICHE WAHRHEIT macht das vorerst nur die amerikanische private Sicherheitsfirma , die uns beim Lesen nun als alter ego des ganzen Amerikas erscheint.
INFO:
John le Carré, Empfindliche Wahrheit, Ullstein Verlag, 2013. 391 Seiten
John le Carré, Empfindliche Wahrheit, gelesen von Matthias Brandt, Hörbuch Hamburg, 9 CDs
John le Carré, Der Spion, der aus der Kälte kam, gelesen von Matthias Brandt, Hörbuch Hamburg, 6 CDs
Was soll man tun, wenn man schnell ein Buch lesen will, aber viel umherkutschieren muß, weil längere Pressereisen anstehen. Ganz einfach: Buch und Hörbuch koordinieren. Das taten wir mit Vergnügen. Matthias Brandt hatte gerade schon den SPION, den Bestseller von vor 50 Jahren eingelesen, was uns gut gefiel, weil seine Stimme vom Inhalt nicht ablenkt, uns aber immer wieder die rote Linie markiert. Auch EMPFINDLICHE WAHRHEIT liest er brillant. Hier kann er noch stärker, die so unterschiedlichen Charaktere der Geschichte artikulieren, die eben nicht nur aus dem Spionagemilieu, sondern dem echten alten England stammen. Es gab nur ein Problem. Beim Weiterlesen im Buch lasen wir stets mit der Stimme von Matthias Brandt. Wenigstens so lange, bis uns das Geschehen so in Bann zog, daß es egal wurde, wer liest, ob die eigenen Augen oder Matthias Brandt!
ACHTUNG. Das Hörbuch ist ab 2. Dezember lieferbar. Weihnachtsgeschenk?