Eine weitere Interpretation in Weltexpresso
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) - Vielleicht sollte man mit einer Geschichte anfangen: Da wird nämlich erzählt, daß der Fillm"Männer" (1985) von Doris Dörrie in gewisser Weise ein Verlegenheitsprodukt gewesen sei, aus Geldmangel dazwischen geschoben, und da es nicht so darauf ankam, konnte man mit dem Material unbeschwert umgehen. Genau darin habe der Charme des Films gelegen, sei das Geheimnis seines Erfolges.
Warum wir das berichten?
Wir fühlten uns angesichts des neuen Buches von Daniel Kehlmann daran erinnert. Da gab es bekanntlich jenen Überraschungserfolg "Die Vermessung der Welt" (2005), obwohl es nicht die erste Veröffentlichung des Autors war, aber die erste, die wesentliche Beachtung fand. Das geschah nicht plötzlich, sondern schlich sich gewissermaßen herein. Dann war Kehlmann berühmt und hatte das Problem zu lösen, wie er damit umzugehen habe. Also schrieb er einen Roman mit dem schönen Titel "Ruhm" (2009), was allgemein als ein raffinierter Schachzug gewertet wurde des Schriftstellers, der seit seinem großen Erfolg natürlich beargwöhnt wurde, wobei nicht wenige darauf lauerten, wann sich ein erster Mißerfolg einstellen würde.
Es wird oft gesagt, daß es stets auf das zweite Buch eines Autors ankomme. Darin zeige sich angeblich sein Talent. Denn, warum auch immer, ein gelungenes Debut könne beinahe jeder vorlegen. Doch, genau besehen, war "Ruhm" gar kein Roman, sondern eine Sammlung mehrerer Erzählungen. Und das ist "F" teilweise auch; selbst, wenn es hier Episoden gibt, in denen Figuren auf früheren Episoden nochmals auftauchen, so etwa der Hypnotiseur Lindemann, den Iwan, einer der beiden Zwillinge, Jahre später, wiedertrifft.
Hypnose, heißt es hier, bedinge gleich mehrere Faktoren, die, weshalb auch immer, niemand erforschen wolle. So, als sei es ein Glaubensgebäude, dem man sich nicht nähern dürfe.
Wofür steht das "F"? Vermutlich für "Fama", also Schicksal. Dafür könnte bereits sprechen, daß der große Buchstabe auf dem Titel wie verschwommen dargestellt wurde. Aber "F" könnte auch für den Namen der Hauptfigur, Friedland, stehen. Und so fort ... So kann es einem bei diesem Buch leicht gehen: Es tauchen Spuren auf, denen man manchmal zu folgen vermag und manchmal nicht.
Ein Beispiel: Die Handlung setzt im Jahre 1984 ein. Das läßt denken an den berühmten Roman "1984" von George Orwell (von 1948); George Orwell aber hieß mit ursprünglichem Namen Eric Arthur Blair; und Arthur ist der Vorname von Kehlmanns Figur des Vaters Friedland, während sein einer Zwilling Eric mit Vornamen heißt.
Ist das eine Spur, der man folgen sollte? Oder versucht uns Kehlmann, auf falsche Fährten zu locken. Sie merken die Anspielung.
Auch gibt es hin und wieder Beschreibungen einzelner Personen, die sich widersprechen, so zum Beispiel über die Zwillinge Iwan und Eric. Mal ist ihr Bewußtsein von ihrer doppelten Idenität klar ausgeprägt, dann wieder empfinden sie sich selbst nicht nur als äußerlich ununterscheidbar. Die Trennschärfe verliert sich.
Irgendwo wird es später heißen, jemand sei genialisch, aber leider nicht sehr begabt. Wie soll das funktionieren?
Wovon handelt das Buch? Auch das läßt sich gar nicht so einfach sagen. Es ist wohl eine
Familiengeschichte. Und es hat nicht zuletzt einen religiösen Untergrund. "Gott ist ein sich selbst realisierender Begriff.", heißt es einmal. Und weiter: "(...) weil er denkbar ist (...) weiß ich, daß es ihn auch dann gibt, wenn ich nicht an ihn glaube. Und deshalb glaube ich."
Kurz: Rettet der Glaube an Gott die Menschen aus Ihrer Verstrickung ins Unglück? Das Buch beginnt mit der Aussage, die drei Söhne Friedlands - es gibt noch einen einzelnen dritten Sohn, Martin, der teilweise als Ich-Erzähler fungiert - seien jeweils in ihr eigenes Unglück verstrickt. Gehen sie deswegen zum Hypnotiseur, um sich durch ihn befreien zu lassen und finden dann den Weg in die Religion als wahre Erlösung?
Kehlmann erzählt teilweise doch eher krampfhaft. Und manche Beschreibungen sind erstaunlich unoriginell oder geben sich besonderer, als sie sind: Wie zum Beispiel der fast 'ewig gähnende Kartenabreißer' oder 'Aquarien mit schläfrigen Fischen'. Jemand behauptete einmal, man erkenne bereits am ersten Satz, ob ein Roman glücke oder nicht.
Das scheint zu stimmen. Jedenfalls stimmt es bei "F". Schon der Anfang hat all das, was nicht gelingt. Und doch: Der Gerechtigkeit halber sei erwähnt, daß wir eine ganze Weile sogar recht gerne zu dem Buch griffen. Denn natürlich kann der Autor einen fesseln. Manche Szenen sind eben geglückt. Es wäre nur oftmals das Schlichte, das Unaufwendige ansprechender. Und dann behielte man "F" auch in Erinnerung. So droht es zu verschwinden, wie der erwähnte Buchstabe auf dem Titel sich im Nebel auflöst.