Serie: Der Deutsche Buchpreis 2021, hier die Auswahl der Zwanzig, die letzten Sechs im Frankfurter Literaturhaus, Teil 12
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Schon Tradition: die Lesung der letzten Sechs im Frankfurt Literaturhaus, die bald nach der Nominierung, aber noch Wochen vor dem endgültigen Buchpreisträger 2021 stattfand, der am Montag vor der Buchmesse, also am 18. Oktober im Frankfurter Römer erwählt wird, wie anno dazumal die deutschen Kaiser, die zumindest an der Wand hängend zuschauen können, was sich da tut. Endlich wieder, denn Corona hatte alle Öffentlichkeit ausgesperrt und auch wenn gerade das Buch coronaaffin ist, denn Lesen muß man selber und dabei alleine zu sein, ist auch nicht schlecht. Aber jetzt, nachdem die kurze Liste bekannt wurde, sind alle Gekommenen und die, die im Livestream zuschauen, einfach gespannt auf die Autoren, ihre Romane und auf das Miteinander im großen Raum auch! Zum sechzehnten Mal!
Nein, es kann nicht direkt losgehen, denn bei der Begrüßung durch den Hausherrn Hauke Hückstädt braust Beifall auf, als er Alexander Skipis erwähnt. Der Geschäftsführer des Deutschen Börsenvereins wird Ende des Jahres aufhören und hat sich in den letzten Jahren durch seine eindeutige Haltung gegenüber Ländern, die offiziell von Deutschland gefördert werden, aber ihre Schriftsteller und Journalisten einsperren, wenn sie nicht staatsgenehme Äußerungen tun, nicht nur hervorgetan, sondern nicht aufgegeben, zu mahnen und die Freiheit des Wortes einzufordern - auch in der Türkei, aber auch anderswo. Alexander Skipis kam dann auch selbst zu Wort, er war auch bei den letztjährigen Veranstaltungen immer dabei und kam auf die wohltuende Wirkung des Deutschen Buchpreises (seit 2005) zu sprechen, der nun auch zu einem Sachbuchpreis geführt habe. Leider nimmt man in Deutschland immer zu wenig wahr, daß die weiteren deutschsprachigen Länder Österreich (seit 2016) und die Schweiz ( seit 2008) mit ihren eigenen nationalen Buchpreisen nachzogen.
Auch Sonja Vandenrath, im Kulturamt für die Literaturveranstaltungen der Stadt zuständig, begrüßte und dankte den Vorrednern. Doch, ich glaube, daß die Frankfurter schon wissen, in welchem Ausmaß sie von den Literaturanstrengungen von Stadt, Messe und Börsenverein profitieren. Auf jeden Fall dankte das Publikum den Rednern und später den lesenden und diskutierenden Autoren mit großem Applaus. Eigentlich waren die Sechs der kurzen Liste angekündigt, aber Christian Kracht, dessen EUROTRASH wir sehr positiv besprochen hatten, ließ sich entschuldigen. Das war weiter kein Thema, weil immer mal einer bei dem schon lange bekannten Termin fehlt. Nur gibt es hier eine Besonderheit, denn der Schweizer Christian Kracht, der seitdem er mit FASERLAND ein von vielen - uns auch - geschmähter Autor war, war mit seinem neuen Roman auch auf der Fünferliste zum Schweizer Buchpreis, hat jedoch seine Nominierung im Nachhinein vor über zwei Wochen abgelehnt, so daß der Preis jetzt nur unter den verbleibenden Vier ausgetragen wird, was schade ist. Es muß in der Schweiz eine heftige Kampagne gegen ihn gegeben haben. Schade, daß das 'neutrale' Frankfurt von ihm nicht genutzt wurde, denn, ich sage es noch einmal, sein Roman wäre ein würdiger Preisroman!
Selber Lesen ist das eine, aber öffentlich das von Autoren Gelesene zu hören, ist eine andere Kragenweite, zumal die jeweiligen Moderatoren durch Fragen mal mehr mal weniger die Struktur der Romane und die Schreibweise, ihren Stil herauskitzeln wollen. MONIKA HELFER machte es dem freien Kritiker Christoph Schröder dabei leicht. Denn sie, die sich als erfolglose Schriftstellerin aus Österreich bezeichnete, einfach, weil ihr Ehemann Michael Köhlmeier ein Bestsellerautor ist, übrigens in Deutschland viel weniger gewürdigt als in Österreich, wo er auch durch seine Radiosendungen seit Jahrzehnten Kultautor ist, redet wie sie schreibt und schreibt, wie sie redet. Nicht um den heißen Brei herum. Mit VATI hat sie ihren eigenen Vater herausgestellt aus dem Zusammenhang der mütterlichen Familie, der sie zuvor 2020 den sehr erfolgreichen Roman Bagage widmete, einer Großfamilie, die krakenhaft beides ausströmt: Heimat und in ihr gefangen sein. VATI ist ganz anders. Es zeigt sich hier schon etwas, was in anderen Romanen wiederkehrt und wo man sich fragt, ob das Auswahlkriterien der Jury gewesen seien. In den Romanen tauchen Figuren auf, die schon in Vorgängerromanen eine Rolle spielten, jetzt aber eine weit größere,nämlich die Hauptrolle. Ein wenig erinnert das an das Vorgehen der Blockbusters, die ein Sequel nach dem anderen bringen, meist die Vorgeschichten, wie auch hier bei VATI. Denn es sind die Erinnerungen der Tochter, verbunden mit Familienerzählungen und vor allem Fotos des Vaters, der die Erinnerungen aus der Tiefe des Gedächtnisses holt. Fragt sich, warum das ein Roman ist, keine Biographie der Tochter oder ein Familienroman?
Das wird auch bei weiteren Romanen eine Rolle spielen, denn das ist die zweite Besonderheit, die auffällt. Viele der Romane sind autobiographisch, aber eben keine echten Autobiographien. Schon bei VATI taucht das Thema auf, das sich durch den Abend zieht: das Verhältnis von erlebter Familiengeschichte und Fiktion. Das nennt man heute autofiktionale Erinnerung?!
Das ging nicht gut, mit der Ehe, aber immerhin hatte der kriegsversehrte spröde Vati in die Bagage hineingeheiratet, gehörte offiziell dazu, nur nicht in Wirklichkeit. Da lebte er lieber mit Büchern. Es ging ihm um den Aufbau einer Bibliothek und die Tochter sagt gelassen: „Er hatte Bücher lieber als uns.“ Es sind weniger die erzählten Begebenheiten, als die Sprache, in der Monika Helfer ihrer Geschichte, ihres Vaters literarisch Herr wird. Auf zärtliche Weise. Und das ist ein Drittes, das viele der Auswahlliste gemeinsam haben, inhaltlich übereinstimmen: nachgetragene Liebe hat man das früher genannt und der Ausdruck ist auch heute zutreffend. Denn sicher hat die Beschäftigung von Monika Helfer mit ihrem eigenen Vater, der Vati genannt werden wollte, weil das im Nachkriegsösterreich moderner klang, auch mit ihrem Gefühl zu tun, ihm zu Lebzeiten nicht gerecht worden zu sein.
Der Moderator hatte verstärkt danach gefragt, wie denn die Bagage auf ihren VATI reagiert habe. Denn in Familien gibt es viele Wahrheiten, je nachdem welches Familienmitglied davon spricht. In dieser Situation hat Monika Helfer zwei Helfer: ein literarisches und eine Person. Sie hat den Text mit der Erzählstimme des Kindes niedergeschrieben und wenn sie nicht weiterwußte, hat sie ihren sprachmächtigen Ehemann gefragt. Er ist ihre absolute Instanz! „Er sagt, wie es geht. Er hat mir sehr viel geholfen.“ Kein Wunder, daß das Publikum lacht, aber man hat den Eindruck, das ist genau die Reaktion, die Monika Helfer erzeugen wollte. Eine Wahrheit, die aber gleichzeitig sich selbst karikiert und dadurch zur Melange wird. Darin ist Monika Helfer perfekt und Lachen entlastet gleichzeitig das Publikum, das ja über Stunden brav mit Maske dazu auf den Stühlen sitzt.
Helfers literarische Sprache ist dabei das, was nachher in der Pause zu interessanten Diskussionen führte. Sie liest ihre geschriebenen Sätze vor, die so klingen wie man spricht. Es ist ja auch ein Kind, das hier erzählt. Nur führte das für eine Kollegin zu folgender – für mich völlig unpassender Assoziation – nämlich der der einfachen Sprache, für die Literaturhauschef Hauke Hückstädt ständig eine Lanze bricht. Ich nicht. Aber Monika Helfers einfach Sätze mit einfacher Sprache zu kennzeichnen, ist grundfalsch, weil es eine Kunstsprache ist, die schriftlich das wiedergibt, wie man spricht. Das hat schon Thomas Bernhard gemacht und dies hat in Österreich zudem eine lange Tradition.
Aber zurück zur Geschichte, die in verschiedenen Erinnerungen transparent die Familienverhältnisse schildert, wenn Renate mit dem Vater nach Berlin fährt und der sonst wortkarge Mann in einer Schwulenbar zum Alleinunterhalter wird. Aber es ist doch die Situation, die einen mehr als die Geschichten berührt. Denn die Mutter ist jung gestorben und der Vater hat sich einfach verdünnisiert. Er war weg. Später weiß sie, er ist ins Kloster gegangen.
Für sie selbst hat sich das Buch aus zehn Fotografien zusammengeschrieben. Auf den Fotos kann man die Personen sehen, Zusammenhänge zwischen ihnen erahnen. Aber welche Gefühle sie haben, zeigen die Züge wenig und schon gar nicht, was derjenige denkt. Das also war ihre Aufgabe, den abgebildeten Menschen ein Eigenleben zu geben. Für den Vater gilt: „Ich wollte mir den Mann erschreiben.“ Aber, konstatiert sie, „ich verstehe ihn auch nach dem Schreiben nicht, er hat sich ja selbst nicht verstanden.“
Als Kriegsversehrter konnte er die ersten Jahre Verwalter in einem Kriegserholungsheim hoch oben auf dem Berg sein. In Rußland war ihm ein Bein erfroren und das Gute war, daß das Heim nur zweimal im Jahr belegt wurde, die Familie also ein Reich für sich hatte. Sein Lesen galt auch der Philosophie und er war im Austausch mit einem Tübinger Professor, der ihm seine Bibliothek vermachte. Es sind also immer wieder die Bücher, die eine Rolle spielen. Und doch ging er ohne sie ins Kloster. Mitgenommen hat sie aus ihrer Familie das Gefühl von Geborgenheit, das sich in einer Sentenz ausdrückt wie: „Es geht niemand verloren.“ Und darum gilt auch für die ganze Familie, auch ihremVater gegenüber: „Wir haben uns sehr bemüht“. Ja, bekräftigt sie: „Ist ja auch wahr, wir haben uns sehr bemüht.“.
Fotos:
Titel: Monika Helfer und Moderator Christoph Schröder
Text: Alexander Skipis
©Petra Kammann