Schweizer Buchpreis 2011 , Teil 5 : Die Preisverleihung am 20. November

 

von Claudia Schulmerich

 

Basel (Weltexpresso) – Alexandra Kedves trug als nächste die Laudatio auf „Gerron“ von Charles Lewinsky vor: „Über eins will er nicht mehr schreiben – übers Judentum: Das postulierte Charles Lewinsky, als ich ihn nach dem Erscheinen seines großen Familienromans ‚Melnitz’ traf. Zum Glück hat er es aber doch wieder getan. Rund 550 Seiten jüdische Lebensgeschichte hat Lewinsky heuer mit ‚Gerron’ vorgelegt. Und was heißt hier vorgelegt?

 

Dieses Wort klingt viel zu schlapp für ein Buch, das sprudelt und spottet, das immer pulsiert und manchmal auch irritiert und das bestimmt keiner einfach so herunterkonsumiert. Der Erzähler in diesem Roman ist der Schauspieler und Filmregisseur Kurt Gerson, der sich später Kurt Gerron nennt. 1897 in eine  Berliner Händlerfamilie hineingeboren, wurde er 1944 in Auschwitz ermordet – nachdem er im Lager Theresienstadt einen Film zur Täuschung der Weltöffentlichkeit gedreht hatte mit dem Titel ‚Theresienstadt: ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet.“

 

Die Laudatorin führt auf, wie man die minutiöse Recherche des Autors im Buch verfolgen kann, dennoch nie den Eindruck eines abgeschriebenen Lebens habe, sondern den von Verdichtung: „Er schreibt aus der Perspektive des nach Theresienstadt deportierten Künstlers, dem der Transport nach Auschwitz droht und der nun vor der Frage steht, ob er beim verlogenen Film übers Lager mittun soll oder nicht. Lewinsky traut sich, seinem Gerron in dieser Situation die Stimme des munteren Causeurs und Raconteurs, des Kabarett-Conférenciers und Galgen-Humoristen zu verleihen. Angesichts des Grauens, angesichts von Hunger, Krankheit und Tod ist das erstaunlich. Und es ist klug…“

 

Andreas Isenschmid schießlich kam es zu, „Seerücken von Peter Stamm zu loben, dem einzigen Erzählband unter den letzten fünf Erwählten: „’Seerücken’ heißt Peter Stamms neuester Erzählungsband, er könnte aber in Abwandlung von Albert Camus’ bekanntestem Buch ebenso gut „Die Fremden“ heißen. Stamm handelt in zehn Erzählungen von Fremden in mehrfachem Sinn. Viele seiner Figuren sind Fremde in der Gesellschaft, Außenseiter, Manche sind das ganz buchstäblich, eine lebt als Kind allein im Wald, eine in einem verlassenen fernen Berghotel, andere sind es in übertragendem Sinn wie der Pfarrer, der sich seiner Gemeinde so sehr entfremdet daß am Ende kein Mensch in seinen Gottesdienst kommt…“

 

Isenschmid bewältigt das schwierige Geschäft, Inhalte von Erzählungen zu bündeln und kommt zum Schluß: „Wenn ferner der Eindruck entstanden sein sollte, Stamms Erzählungen seien eindeutig, dann muß auch das korrigiert werden. Die wunderbare Einfachheit dieser Geschichten wird von ihrer Vieldeutigkeit bei weitem übertroffen. Unter Menschen mögen Stamms Menschen ja unbehaust sein, sie mögen fliehen, aber es ist oft ‚Flucht auf die Menschen zu’, und wie sehr zu Hause können sich diese umfassend Fremden im Wald oder im Blick auf Hügel und Seen fühlen. Zum Feinsten an diesen Geschichten gehört schließlich der offene Raum, in dem sie ihre Leser am Ende schweben lassen“.

 

Vincent Leittersdorf liest vom Anfang der ersten Erzählung ‚Sommergäste’: „SIE KOMMEN ALLEIN?, fragte die Frau am Telefon noch einmal. Ihren Namen hatte ich nicht verstanden, ihren Akzent konnte ich nicht einordnen. Ja, sagte ich. Ich suche einen Ort, an dem ich in Ruhe arbeiten kann. Sie lachte etwas zu lang, dann fragte sie, was ich denn arbeiten würde. Ich schreibe, sagte ich. Was schreiben Sie? Eine Arbeit über Maxim Gorki. Ich bin Slawist. Ihre Neugier ärgerte mich. Ach? , sagte sie. Sie schien einen Moment lang zu zögern, als wäre sie nicht sicher, ob sie da Thema interessiere. Gut, sagte sie schließlich, kommen Sie. Sie kennen den Weg?“ Fortsetzung folgt.

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