Eine neue Serie im Ullstein Verlag von Henrike Engel, Teil 1
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das ist ein Roman für alle diejenigen, die sich über handelnde Figuren auch einen Überblick über andere Zeiten verschaffen möchte, lebendige Geschichte also; auch ein Roman für alle, die Hamburg lieben oder er erst kennenlernen wollen. Auf jeden Fall ein Roman für jegliche Frau und für den Mann, der Frauen besser verstehen können will.
Also eine ganze Menge Menschen. Aber schreiben wir auch gleich, für wen der Roman nicht geeignet ist: Wer Krimis nicht mag und mit Toten auf Bücherseiten nichts zu tun haben will, wer nicht so oft lesen will, wie Frauen auf einmal schön werden, wer literarisch anspruchsvolle Texte liebt und vor allem, wer keine Cliffhanger mag, die mitten im Text auftauchen und bis zum Schluß nicht geklärt sind.
Der Reihe nach. Da ist die zukünftige Hafenärztin, die von London nach Hamburg reist, sich Dr. Anne Fitzpatrick nennt. Keinen Moment wird verschwiegen, daß sie in Hamburg aufgewachsen ist und durch die schlimme Tat eines Nachbarn vor fünfzehn Jahren aus der großbürgerlichen Villa in Uhlenhorst mit der Familie aus Deutschland nach England fliehen mußte, wo der Vater erneut erfolgreiche Unternehmen aufbaute, hier eine Reederei, die es möglich machte, daß sie als eine Art blinder Passagier nach Hamburg gelangte, obwohl sie in England steckbrieflich gesucht wurde und ein Auslieferungsverfahren nach Hamburg geschickt wird.
Aber ihren eigentlichen Namen erfahren wir erstmals auf Seite 411 von Baron von Stetten und dann auf Seite 458 von 462 , weil der schreckliche Nachbar aus Kindertagen ihn dem Kommissar verraten hat: Anne van der Zwann, nachdem kurz deren Vater unter diesem Namen schon einmal aufgetaucht war. Aha, die Autorin spielt ein wenig mit uns. Sie führt in eine Geschichte ein, deren wichtige Bestandteile erwähnt, aber nicht geklärt werden, wo aber dann die eigentliche Handlung, eine Mordserie, die diesen Roman bestimmt, am Ende vollständig aufgeklärt ist.
Eine zweite Hauptfigur des Romans ist Helene Curtius, ein junges Mädchen, das in eine Hauswirtschaftsschule soll, was sie nicht möchte. So fängt es an, daß ihr klar wird, was sie nicht will, wir sind dabei, wenn sie wissen wird, was sie will: wo sich durch das, was sie den Roman über erlebt, ihr Bewußtsein verändert, wobei das spätestens begonnen hatte, als ihr älterer Bruder Klaus die Enge des väterlichen Pastorenhauses nicht aushielt und gerade mit gutem Ausgang stiften gegangen war. So steht es zumindest im Brief an die Schwester, den sie im Laufe der Ereignisse aus Kuba erhält. Sie lebt in einer Villa an einem Querarm der Außenalster, also ebenfalls einer gut betuchten Gegend, ganz in der Nähe ihrer Freundin Pauline.
Doch die eigentliche Hauptrolle spielen die Verhältnisse, in denen Frauen in allen Gesellschaftsschichten unterdrückt sind und wogegen sich 1910 immerhin schon länger Proteste erhoben haben und sich verschiedene Frauenvereine gegründet haben, um dagegen vorzugehen und Frauen Schutz zu gewähren. Einen solchen Schutz will Anne Fitzpatrick mit dem Grünen Haus in der Hamburger Hafengegend, das ihrem Vater gehört, bieten, in Zusammenarbeit mit dem von Lida Gustava Heymann gegründeten Hamburger Frauenverein, der im Roman an vielen Stellen auftaucht. .
Hier wünscht man sich durchaus im Anhang die im Roman aufgeführten Personen auch historisch einordnen zu können. Die in Hamburg 1868 geborene Heymann war eine bedeutende deutsche Frauenrechtlerin, die dies werden konnte, weil sie seit 1896 den Nachlaß ihres vermögenden Vaters betreute, also über Geldmittel verfügte. Mit ihrer Arbeits- und Lebensgefährtin Anita Augspurg hatte sie übrigens dann in den Zwanzigerjahren die Ausweisung des Österreichers Adolf Hitlers aus Deutschland gefordert. Stattdessen mußten dann beide nach der Machtergreifung in den Dreißiger Jahren in die Schweiz fliehen.
Dies ist deshalb wichtig, weil im Roman die - grob gesagt - drei Tendenzen der Frauenbewegung eine Rolle spielen, die leider immer wieder auch gegeneinander agierten: die bürgerliche, wie sie ursprünglich Lida Gustava Heymann vertrat, die im Zugang zu Bildung und anderen Rechten, die Männern zustand, die Gleichberechtigung der Geschlechter erhoffte, deshalb bürgerliche Frauenbewegung genannt, weil dies ein Anliegen der Frauen einer Gesellschaftsschicht war, die zumindest jeden Tag zu essen hatte und sich um solche Existenzfragen nicht kümmern mußte. Weil dies einige der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen als Problem erkannten, kam es zur radikalen Frauenbewegung, zu der sich zunehmend Heymann bekannte, weil eben die bürgerliche nicht vorankam , die dritte wiederum ist die proletarische Frauenbewegung, die stark auf die Arbeiterbewegung selbst setzte, in deren Folge, also Teilhabe an gesellschaftlicher Macht, sprich: auch genug zu essen und Bildung für alle, auch Frauenemanzipation dann möglich würde.
Natürlich wollen wir das nicht im Text lesen, sondern in Anmerkungen, aber die sind zum Verständnis der Figuren durchaus wichtig, um die Differenzen, die Anne mit dem Frauenverein in Bezug auf Prostituierte hat, zu verstehen.
Fortsetzung folgt
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Info:
Henrike Engel, Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen, Hafenärztin-Serie Band 1, Ullstein Verlag 2022
ISBN 978 3 86493 190 1