Der FAZ-Redakteur und Schriftsteller stellt seinen Theodor-Storm-Krimi DAS NORDSEEKIND aus dem Aufbau Verlag am 20. April in Frankfurt vor, Teil 2/2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gibt es liebevolle Lesungen? Auf jeden Fall war die von Dierk moderierte Lesung von Tilman Spreckelsen eine. Vielleicht liegt es auch grundsätzlich an der familiären Atmosphäre im kleinen Saal und großen Zimmer der Historischen Villa Emma Metzler, daß Wohlfühlgefühle den Abend bestimmten, wo doch DAS NORDSEEKIND, in dem Theodor Storm ermittelt, ganz schön düster mit vielen Toten daherkommt.
Daß er immer so gerne Theodor Storm gelesen habe, sei seine Motivation gewesen, eine Krimireihe – das heutige Buch ist das fünfte der Serie – mit dem Ermittler Storm zu gestalten, der ja im Brotberuf Anwalt war, wobei die von Spreckelsen untersuchten und beschriebenen Fälle alle im Umfeld von Storm vorgekommen sind. Natürlich hat Spreckelsen sie ausgeschmückt und auch die ‚echten‘ Personen idealisiert oder sperriger gemacht, aber grundsätzlich gibt es einen wahrhaftigen Kern.
Den vom NORDSEEKIND kann man in Storms Novelle AUF DEM STAATSHOF, die er Ende 1857 niederschrieb, erfahren/erkennen. Das ist übrigens eine interessante Erfahrung, heute Storm wiederzulesen, der für unsereinen in der eigenen Schulzeit ziemlich totgeritten wurde, mit DER SCHIMMELREITER, IMMENSEE, POLE POPENSPÄLER.
Gut, daß der Verfasser in einem Nachwort auf den Zusammenhang seines Kriminalromans mit den Schriften Storms hinweist. Denn daraus kann man auch sein Konzept seiner Krimiserie erkennen. Aus den Novellen und anderen Schriften Storms entwickelt Spreckelsen seine, d.h. Storms Fälle, die dann natürlich einige Jahre vorher geschahen, denn Storm hat sie ja erst nach dem Abschluß der Fälle Jahre später literarisch verarbeitet. In diesem Fall geschehen die Ereignisse im NORDSEEKIND 1845, die Novelle AUF DEM STAATSHOF kam 12 Jahre später heraus.
Dierk Wolters (links) , der die Besucher begrüßt hatte und moderierte, ist wie der Schriftsteller Spreckelsen im Brotberuf Journalist. Der eine ist Kulturredakteur bei der Frankfurter Neuen Presse (FNP), der andere bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Launig hatte er seinen Kollegen vorgestellt und dessen Umfeld als Hotspot der Kriminalistik mit den ungeheuerlichsten Krimifällen bezeichnet. Daß er im Krimigewerbe nicht so ganz zu Hause ist, zeigte er bei seinem übertriebenen Lob mit dem er „den Kniff“ des Autors bedachte, mit dem Schreiber Peter Söt einen Gewährsmann für die Authentizität der Ermittlungen erfunden zu haben, da dieser einerseits die Innenperspektive habe, aber eben doch auch die Außenperspektive einnehme. Spätestens seit dem erzählerischen Ich des Dr. Watsons und seinen Aufzeichnungen über die Fälle des Sherlock Holmes bei Canon Doyle ist das – wie schon erwähnt – genau aus diesen Gründen des Innen und Außens einfach stimmig.
Sehr interessant war, was Spreckelsen über die ‚spröde‘ Stadt Husum erzählte und über das damalige Leben dort, denn Theodor Storm wurde dort nicht nur geboren, sondern sein Vater, der angesehne Anwalt und Platzhirsch, war einer der wichtigen Stadtpersönlichkeiten, der für den Dichter Storm sowohl Schutz wie auch Belastung war. Der am 14. September 1817 geborene Storm lernte bei seiner Juristenausbildung in Kiel den gleichaltrigen Namensvetter und späteren Historiker Theodor Mommsen (mit seiner RÖMISCHE GESCHICHTE der erste deutsche Literaturnobelpreisträger) kennen, beiden war die Volksdichtung, hier vor allem Märchen wichtig, die sie sammelten und herausgaben. Wichtig eben auch, daß Husum wie das gesamte Gebiet über Jahrhunderte dänisch war und erst im Deutsch-Dänischen-Krieg 1867 preußisch wurde. Für Storm hatte das bedeutet, ab 1853 keine Berufserlaubnis als Anwalt zu bekommen, weshalb er zwischenzeitlich in Potsdam lebte und arbeitete.
Daß für den Krimischreiber die Fälle aus den literarischen Aufarbeitungen des Stormschen Berufslebens herrühren und also authentisch sind, ist dem Autor wichtig, genauso wie er sich dazu bekennt, die historischen Personen allerdings mit Charakteren und Verhaltensweisen auszustatten, wie es die dichterische Freiheit zuläßt. Dies betrifft am stärksten Constanze, erst jahrelang die Verlobte und dann die Ehefrau Storms, die in NORDSEEKIND außerordentlich sympathisch, frauenbewegt und sozial interessiert dargestellt ist, ja geradezu feministisch agiert in ihrer offenen, direkten Ansprache an Storm, aber auch andere, wobei das nicht auf’s Reden beschränkt bleibt, sie handelt auch, bzw. zwingt Storm zum Handeln.
Über das Verhältnis der beiden, der sich aus dem jahrelangen Briefwechsel ergibt, sprach Spreckelsen auch, weil sich darin eine andere Constanze, vor allem doch übergriffiger, ein paternalistischer Storm zeigt, der dies später selbstkritisch selbst erkannte. 20 Jahre waren beide verheiratet und nach dem 7. Kind starb die Ehefrau. Ein typisches Frauenschicksal der Zeit. Aber in den Krimis ist sie jung und forsch und trägt zur Aufklärung der Fälle bei.
Wichtig ist dem Autor auch die Einbettung seiner Geschichte im 19. in die der Wogenmänner aus dem 14. Jahrhundert. Eine grausame Männertruppe entführte Mädchen und Frauen, vergewaltigen sie, töteten sie, je nachdem. Dies wird in kursiv gedruckten Seiten in die Krimihandlung einbezogen und hat auch inhaltlich mit der Aufklärung des Falls zu tun. Dabei ist Anna Lena die verbindende Figur. Die ist tatsächlich historisch und vormals ertrunken, wie es im Roman der Enkelin der Frau geschieht, die mit anderen Frauen eine Schutzbastion für Frauen geschaffen hatte, was Hintergrund der Morde ist, von denen es für meinen Geschmack im NORDSEEKIND zu viele gibt.
Der Autor hatte dreimal gelesen und dann auch kundgetan, wie er die Krimis konzipiert. Der Anfang, der feste Plan sind immer die Schauplätze, die er sich zuerst aussucht, vor allem, wo das Finale spielt, alles andere kommt nach und nach hinzu.
Sicher muß man auf den sechsten Band etwas warten, denn dieser fünfte ist gerade erschienen. Warum er erstmals bei Aufbau veröffentlicht wurde, obwohl die bisherige Storm-Serie bei Fischer herauskam, wurde nicht erörtert. Das wird schon seine Gründe haben.
Auf jeden Fall machte der Abend Lust auf Theodor Storm, auf die Krimis über ihn und seine originalen Schriften. Gut so.
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Info:
DONNERSTAG | 20. APRIL 2023 | 19 UHR
Ort: Historische Villa Metzler, Schaumainkai 17, 60594 Frankfurt am Main
Eintritt: 8 € | erm. 4€
Tilman Spreckelsen ist Autor, Publizist, Herausgeber und Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er wurde 2014 mit dem Theodor-Storm-Preis ausgezeichnet. Das Nordseekind ist sein fünfter Theodor-Storm-Krimi.
MODERATION: DIERK WOLTERS: Dierk Wolters ist Kulturredakteur mit den Schwerpunkten Kunst und Literatur bei der Frankfurter Neuen Presse.
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Eine Veranstaltung des Kulturamts Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Kunstgewerbeverein in Frankfurt am Main e.V.